Buch des Flüsterns
selbst stiehlt, der passt auf, der achtet auf sein Leben, wie man so sagt, eben darum stiehlt er ja, damit es ihm besser geht, wer für jemand anderen stiehlt, der kümmert sich nicht um sich selbst, dem ist sein eigenes Leben keine zwei Groschen wert. Und er erhob den Zeigefinger: Wenn du vom Staat stiehlst, darfst du nicht gleichgültig sein, immerzu musst du die Ohren gespitzt halten, du kannst niemals wissen, wann er zuschlägt. Und Vrej Papazian schloss: So kann ich euch die Geschichte nicht zu Ende erzählen, denn sie ist unbeendet geblieben. Über ihn weiß niemand etwas zu sagen, er hat kein Lebenszeichen mehr gegeben, und sie wartet immer noch auf ihn. Lediglich so viel: Der Baum ist eingegangen, er hatte mit einer Zitrone, die an dem einzig grün gebliebenen Zweig hing, darauf gewartet, dass Virginica zurückkehrte, und als sie sich neben ihn setzte und ihn umarmte, hat er seine Seele ausgehaucht. Wie kann ein Baum seine Seele aushauchen?, fragte der Pfarrer, den man nicht zu einer derartigen Kommunion geladen hatte. Wie der Mensch auch, mit einem Mal wird er weich, dann erstarrt er, schließt die Augen und kriegt kein Licht mehr. Die Geschichte war ein klein bisschen durcheinandergeraten. Der Mann und die Frau konnten nicht mehr vertrieben werden, sie waren in der Welt geblieben, in die sie gefallen waren, aber der Baum, der ihnen seine Früchte gegeben hatte, war sterblich geworden.
Dann schob Großvater die Kiste zu Arșag, dem Glöckner, hinüber. Die Leute waren abgelenkt, sagte der Glöckner. Viele waren in die Kirche gekommen, hatten sich in die Bänke gesetzt, einige waren entlang der Wände stehen geblieben. Nur im Chorgestühl hat sich niemand hingesetzt, denn es war kein Gottesdienst. Und vor der königlichen Tür stand die Kiste. Sie hatten die Glocke läuten gehört und waren gekommen, diejenigen, die es schon wussten, haben in Zeitungspapier eingewickelte Schuhe mitgebracht, die anderen brachten, was sie konnten. Ich hatte sie vom Glockenturm aus kommen gesehen. Ich habe immer schon vor euch gesehen, was geschehen würde, denn vom Glockenturm aus kann man weit sehen. Deshalb hat Gott, der mir eine weitere Sicht geschenkt hat, mir etwas vom Gehör genommen. Hierher, wo ich mich aufhalte, kommen oft die Vögel und setzen sich aufs Dach, dann schwirren mitunter nachts die Fledermäuse herum, und die Spinnweben funkeln. Wenn die Glocke läutet, erheben sich die Schwärme und kreisen über dem Glockenturm. Ich beneide die Vögel dafür, dass sie sich so hoch hinaufschwingen und so weit sehen können. Ich habe Fallen aufgestellt, aber nie einen fangen können, sie spüren das, wenn sie mich sehen, wissen dann, dass gleich wieder die Glocke läuten wird. Und weil ich weiter sehen kann, frage ich mich das öfter als ihr. Man könnte meinen, dass ich, da ich eine Minute früher weiß, was geschehen wird, besser Bescheid wüsste als ihr, aber dem ist nicht so. Noch hat niemand einen so hohen Glockenturm erbaut, dass man aus seinen Fenstern schauen und die vollständige Antwort erfahren könnte. Ja, ich könnte sagen, was ich dort sehe, wo euer Blick nicht hinreicht oder ihr bloß einen Nebelstreif sehen könnt, das beunruhigt mich. Darum bin ich auch beunruhigter als ihr. Und deshalb habe ich mich dafür entschieden, die Glocke zu läuten, denn es kommt mir unnatürlich, ungerecht vor, dass sie so ruhig und gelassen ist, während es uns umtreibt, weil wir nicht wissen, was noch geschehen wird. Eben deshalb fliegen die Vögel davon, sie hüten sich vor mir, setzen sich nicht auf meine Schultern, sie spüren meine Unruhe, und sie mögen keine unruhigen Menschen. Wie man leicht erkennen kann, verraten die Vögel und die Augen unsere Unruhe. Und in dieser unserer Geschichte, die sich aus vielen anderen Geschichten zusammensetzt, wie ein aus vielen Taschentüchern zusammengeknotetes Seil, sterben die Leute mit offenen Augen. Du weißt das am besten, Minas, denn du legst deine Hand auf ihre kalte Stirn, fährst damit langsam die Wangen hinab und klappst ihre Augenlider zu. Erinnere dich an Harutiun Fringhian, der über seinem Testament die Hände gefaltet hatte, in seinem Kämmerchen, wo die in der Pfanne vergessenen und verkohlten Nüsse stanken. An den armen
E
ș
ek
Simon mit dem plötzlich geraden statt überkreuzten Blick. An Ohanes Krikorian, der im Stadion noch auf dem Rasen sitzen geblieben war, als alle schon gegangen waren, den Blick auf den Punkt in der Mitte des Spielfeldes gerichtet, und, kalt
Weitere Kostenlose Bücher