Buch des Flüsterns
überlegte er und fügte mit den Fingerspitzen auch das Spiegelbild dieses Auges hinzu.
Der blinde Minas ging schweren Schrittes und hielt die Laterne über seinen Kopf erhoben, mit der er nächtens den einsamen Reisenden den Weg wies. Doch bevor er die Laterne in die Kiste tat, blies er die Flamme aus, denn in der Welt jenseits des Kistenrandes konnte er sehen, und die anderen waren so blind, wie er es gewesen war.
Dann kam mein Großvater Setrak Melichian, er lächelte mit diesem Lächeln, das sowohl zu den heiteren als auch zu den traurigen Momenten passte. Er holte den aus eingefädelten Olivenkernen angefertigten Gebetskranz aus der Tasche, ließ ihn langsam durch die Finger gleiten und legte ihn vorsichtig wie einen Ring über die anderen Gegenstände.
Dann kam Levon Zohrab und löste erst einmal Verwunderung aus, denn er kam mit leeren Händen. Aber weil ihm nur sein Wort geblieben war, hatte er ebendies mitgebracht. Er blieb unter dem Bild des Pantokrators stehen, stellte sich ihn einen Moment lang mit den Gesichtszügen seines Vaters vor, öffnete anschließend die Hände und blieb unter der Kuppel stehen, bis sich die Innenflächen seiner Hände erwärmten und füllten, dann legte er das in die Kiste, was lediglich ein blasser Strahl, ein Lichtteilchen war, man konnte es nicht sehen, aber die anderen glaubten ihm.
Dann kam Khoren Melichian, der ältere Cousin meines Großvaters, und brachte ein feines braunes Kaffeepulver, das er wie Erdkrumen über alles streute.
Meine Großmutter Arșaluis war die erste Frau, die sich heranzutreten traute. Sie hatte Mut gefasst, weil das, was sie als Antwort präsentierte, nicht eigentlich ihre Antwort war. Sie brachte das geblümte, sorgfältig zusammengefaltete Kleid der Frau Spiegel, eines jener Kleider, die Frau Spiegel und andere Frauen ihresgleichen, die nun Schwarz trugen, niemals mehr tragen würden.
Sie schauten ihn an, aber Sahag Șeitanian, der mit der selbstverständlichen Unrast dessen die Frage gestellt hatte, in dessen Brust zwei Wesen leben, hielt es für angebrachter, auf seinem Platz sitzen zu bleiben. Sein Vater Rupen ging durch ihn hindurch; seine Kleider waren zerfetzt und mit Bindfäden verschnürt, damit nicht der Wind an den zerrissenen Tuchrändern hineinfahre, die Füße hatte er mit Lumpen umwickelt. Und weil Rupen Șeitanian gegen den Frost zwei Brettchen in die Lumpen gewickelt hatte, die sich beim Gehen nicht bogen, war er steif schlurfend mit dem Gang der frischen Toten auf ihn zugekommen. Er hatte die Beine der Krähe in der Hand, der Vogel hing mit offenen Flügeln herab, und weil er nun vor dem Altar stand, und auch die vor ihm nicht gesprochen hatten, vermied er es, noch einmal zu sagen, dass Gott tot sei, doch bevor er dem Vogel die Flügel anlegte, damit er in die Kiste passte, zeigte er den umgedrehten Kopf des Vogels mit dem offenen Schnabel und deutete auf diese Weise an, dass, auch wenn wir es nicht wagten, Gottes Tod zu verkünden, wir dies auf jeden Fall von seinen Verkündern sagen könnten.
Dann kam, vorzeitig gealtert, Levon Harutiunian. Er ließ seinen Blick über die in den Bänken Sitzenden kreisen, schaute zur Empore hoch, wo man die kleine Orgel
Amen iev înt hokvuit kum
spielen hörte, und zu den an den Wänden Aufgereihten. Er wies auf Hagop Djololjan Siruni und Vahan Ghemigian, die sich ins Seitengestühl gesetzt hatten, weil dort der einzige Platz in der Kirche war, an dem man reden konnte. Nur wir drei werden zurückkehren, sagte Siruni. Dort, wo wir uns befinden, denken wir an euch und an die Kiste mit Geschenken, die ihr, unsere Brüder aus Focșani, uns vor vielen Jahren am Weihnachtstag gebracht habt. Wir konnten nicht erraten, was sie enthielt, aber wir müssen euch sagen, dass uns hier nichts mehr von Nutzen sein kann, denn wir alle sind allein angesichts des Todes. Unsere Augen beginnen auszubleichen, verbrannt vom Harz, das wir Tropfen für Tropfen an den Baumrinden sammeln müssen. Nach so viel Plage, bis hinauf zu den Zweigen steigen wir auf der Suche nach Harznestern, brechen uns die blutleeren Arme ab. Oftmals schmeckt die Kasha, die wir hier essen, nach Fleisch, denn das Blut aus unserem nackten Zahnfleisch mischt sich darein. Ich habe die Namen der Frauen vergessen, die ich geliebt habe. Wir haben neue Namen erhalten, sie bestehen aus Ziffern, die alles über einen sagen, was nötig ist, die ersten Zahlen benennen den Paragrafen im Strafgesetzbuch und die letzten die Jahre, die man zugemessen
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