Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
Vom Netzwerk:
und gelb wie Wachs, darauf wartete, dass ein Spiel beginne – nur er und Gott selbst mochten gewusst haben, welches. Auch du selbst, Minas, wirst, wenn du gestorben bist, mit trockenen, offenen Augen daliegen, das kann Garabet mir bezeugen, denn er wird es dann an deiner Stelle tun. Anton Ferhat, blutüberströmt und mit weißem Schaum auf den Lippen, aber die Augen weit offen. Auch warst du es, Garabet, der uns von den anderen erzählt hat, die nicht zu uns gehören, aber auf ihre Weise unsere Frage beantworten und ebenso gestorben sind, den Blick wie einen Anker in die Welt geworfen, die sie zurückließen, die Toten aus Vadu Roșca, allen voran Aurică Dimofte, der Sohn der Milchfrau, selbst Mantu, der Zigeuner, der jetzt im Kirchhof auf uns wartet und noch nicht weiß, für wen von uns er sich zu spielen vorbereitet. Wahrscheinlich hatten auch unsere Toten in Sibirien die Augen offen, sie hatten sogar noch mehr Gründe als wir anderen, nur dass sich dort vielleicht niemand die Mühe gemacht hat, ihnen die Lider zu schließen, und da wir keine Nachricht mehr von ihnen bekommen haben, ist es vermutlich nicht falsch, noch auf sie zu warten, wenn nämlich ihre Augen nicht geschlossen sind, sind sie auch noch nicht ganz tot. Derjenige, der einmal von uns erzählen wird, wird schreiben müssen, dass in diesem Buch die Leute mit offenen Augen sterben, jedenfalls solange das, was sie erlebten, nicht ausreichte, um eine Antwort zu finden. Und damit, Garabet, mein lieber Freund, ist alles gesagt, was gesagt werden musste. Und in die Kiste, die du in den Altarraum gebracht und vor der königlichen Tür abgestellt hast, und in die manch einer ein Paar Schuhe gelegt hat, die kein erwachsener Mensch je tragen wird, lege ich zum ewigen Gedenken an die erschöpften und barfüßigen Menschen aller Konvois wo auch immer auf der Welt, wenn meine Stunde gekommen ist, statt einer Antwort auf die Frage: Was ist zu tun?, den Blick nach meinem letzten Seufzer.
    Jetzt waren ein paar mehr in der Kirche. Manche von ihnen hatten lebendige Blicke und waren darauf vorbereitet, ihre Antworten zu geben, andere hatten fahle Gesichter, waren unter dem Putz hervorgekommen.
    Der Erste, der sich in der Stille traute, an die Kiste heranzutreten, war mein Großvater Garabet Vosganian. Vorsichtig stellte er einen nach dem anderen alle Schuhe, sogar die einzelnen paarlosen Kurzstiefel, die einige der Anwesenden mitgebracht hatten, nebeneinander hin, damit sie möglichst wenig Platz einnahmen, reihte sie auf, als stünden sie auf der Schwelle zu einem geweihten Raum oder auf einer Wiese mit frischem Gras, die vielleicht die Leute verlockt hatte, barfuß weiterzugehen.
    Dann kam Micael Noradunghian mit einer seiner Karten, deren Rand noch am wenigsten ausgeblichen war, sie endete in der unteren Ecke rechts mit einer Reihe schwarzer Punkte; und auf der Höhe des letzten Punktes stand »Deir-ez-Zor«, wonach der Rand der Welt abgeschnitten war, sodass man den Eindruck haben konnte, dort beginne entweder die Wüste Mesopotamiens oder aber der Garten Eden, aber dies konnte nur der mit Gewissheit erfahren, der den Weg bis zu Ende ging. Micael Noradunghian legte die Karte in die Kiste, aber auch sie konnte, wie man sieht, keine befriedigende Antwort geben, denn die Antwort begann erst dort, wo es jenseits des Schnitts auf der Karte weiterging.
    Dann kam Harutiun Khîntirian, verbeugte sich vor allen und zeigte seinen Stempel, den er in der Hoffnung, er könne irgendwann mal wieder von Nutzen sein, auf das Tuschekissen drückte, dann legte er ihn an die Seite, damit er nicht die eingerollte Karte des Micael Noradunghian berühre.
    Dann kam Arșag Sâvagian und holte aus seiner Brusttasche das von seinem Schweiß entfärbte Foto, auf dem als ein schwarzer Fleck das Blut aus der Schläfe des Alten im Wald bei Strejnicu zu sehen war, schüttelte davon die welken Blätter ab, die nur er sah, und ließ es ebenfalls wie ein Blatt hinabschweben.
    Dann kam Harutiun Fringhian, öffnete sein Testament, nahm ein weißes Blatt Papier hervor und schrieb geduldig die Namen aller Anwesenden auf. Wo er nicht weiterwusste, flüsterte ihm mein Großvater, der hinter ihm saß, über die Schulter. Anschließend blies er über das Blatt, damit die Tinte trocknete, glättete es, legte eine Handvoll Nüsse in die Mitte und faltete es vorsichtig zusammen.
    Dann kam Onik Tokatlian, der sein ausgelaufenes Auge aus dem von der Kugel zerschmetterten Gesicht in die Kiste legte. Dann

Weitere Kostenlose Bücher