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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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bekommen hat. So werden wir eins mit unseren Strafen und sind sonst nichts mehr. Levon Harutiunian war mit dem Gesagten einverstanden, zog den Entlassungsschein hervor, auf dem seine Strafe vermerkt war, und legte ihn als mögliche Antwort für diejenigen, die ihn etwas hätten fragen können, in die Kiste. Und Siruni gab das Wertvollste, das er bei sich trug, die starke Lupe, die er zum Lesen brauchte, seit seine Augen beinahe blind geworden waren, denn alle anderen wertvollen Dinge, die er besessen hatte, Manuskripte, alte Fermane und Briefe, waren in Holzkassetten verpackt und von der Securitate in den Kellern ihrer Archive versteckt worden. Dann gingen sie langsam alle drei, Levon Harutiunian, Siruni und Vahan Ghemigian, um zu den unendlichen weißen Weiten zurückzukehren, wo sie vor nichts außerhalb oder in ihnen fliehen konnten, zu dieser neuen Entdeckung des zwanzigsten Jahrhunderts, in die Konzentrationszone, wo es zwar Sühne, aber keine Läuterung gab.
    Dann kam Virginica Papazian. Selbst in diesem gelblichen Weihrauchdunst leuchtete die Zitrone, die sie in der Hand hielt. Die Frucht war größer, als sie je eine gesehen hatten, aber da fiel ihnen ein, dass Virginica stets das vergossene Blut an die Wurzeln getan hatte, mithin verstanden sie, die verstrichene Zeit bedenkend, woher dieses ungewöhnliche Leuchten kam.
    Ein paar Augenblicke lang kam niemand mehr, und doch schauten sie sich gegenseitig an, es war ihnen, als näherte sich jemand der Kiste und schlüpfte unbekümmert und ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass er jemand anderem hätte den Platz wegnehmen können, hinein, und die Anwesenden wussten, dass es der wohlanständige Herr Bleibwodubistian war, der, eben weil es ihn nicht gab, allen bekannt war.
    Arșavir Acterian löste Verwunderung aus, denn er war mit je einer Antwort in jeder Hand gekommen; und das hatte bisher niemand getan. Aber Arșavir wollte nicht die Regel brechen, mehrere Antworten geben und mehr Platz in der Kiste beanspruchen, als ihm zukam. Er hatte sich bloß noch nicht entscheiden können, was von den beiden seine Antwort war: In der einen Hand hielt er ein Buch mit Eselsohren, das er aus dem Regal des Antiquariats genommen hatte, in dem er als Verkäufer tätig war, und in der anderen Hand hatte er ein Paar Handschellen. Er überlegte noch ein bisschen, war versucht, das Buch hineinzulegen, aber diese Frage war nicht gestellt worden, um die Antwort zu bekommen, die ihnen gefallen hätte, sondern um die Antwort zu bekommen, die sie für wahr hielten, auch wenn sie Angst vor ihr hatten. Und so steckte Arșavir das Buch in seine weite Jackentasche und legte die Handschellen in die Kiste.
    Dann folgte auf seinen Spuren Simon Șeitanian, holte eine Handvoll Erde hervor, weichte sie mit dem Hauch seines Atems auf und knetete sie rund. Er biss hinein wie in einen Apfel, kaute langsam, schob den Bissen in seinem Mund nach rechts und nach links und legte dann die von einem anderen, ebenfalls aus dem Garten Eden vertriebenen Baum gepflückte Frucht in die Kiste; und niemand konnte wissen, ob jener Baum für das Gute oder für das Böse stand.
    Nun kam Mariam,
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, und streute die auf der Herdplatte gegarte Halva, in die geröstete Nussstückchen und Haselnüsse sowie Gewürznelken zum Aromatisieren gemengt waren, zum Gedenken all des anderen darüber.
    Misak Torlakian kam nicht, denn seine Antwort war noch nicht vorbereitet.
    Die kleine Orgel schwieg, und der Putz an der Wand schloss sich wieder, zurück blieb nur ein feines, alkalisches Pulver. Die Leute verharrten schweigend, warteten. Als klar war, dass niemand mehr eine Antwort hatte, trat als Erster wieder mein Großvater Garabet Vosganian zu den königlichen Türen. Es war an der Zeit, denn die Kiste war gefüllt. Vorsichtig setzte er den Deckel darauf, dann hob er sie sich mit einiger Mühe auf die Schulter. Langsam und mit den Fußspitzen die Ränder der Gegenstände abtastend, damit er nicht stolpere, ging er hinaus. Auch alle anderen kamen heraus, manche aber glaubten, sie würden nun wie an Karfreitag die Kirche umrunden und anschließend die Kiste über die Köpfe hochrecken, damit die in einer Prozession Folgenden unter ihr hindurchgehen könnten, bevor sie wieder in die Kirche gingen. Großvater aber zeigte ihnen an, dass sie geradeaus durch den weitläufigen Kirchhof auf der Allee, durch den alten Friedhof und zwischen den Kastanien hindurch, vorbei an den Gebäuden der ehemaligen

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