Buch des Flüsterns
Zimmer seine Tropenregion habe. Ich vermaß den Fußboden mit meinen Schritten. Halt! Großvater markierte die Stelle mit der Kreide und stellte das Stativ auf. Wir mussten auf der Hut sein, damit der Spiegel sich nicht auf uns stürzte und Großvater mitsamt dem Stativ verschlang. Wir müssen ihn irgendwie täuschen, seine Aufmerksamkeit ablenken. Du wirst ihn ködern. Ich setzte mich davor. Streckte meine Arme aus, damit er möglichst viel zu tun habe. Das Bild war schön. Wenn da nicht der breite Rahmen aus schwarzem Holz gewesen wäre, der in einer Akkolade auslief, hätte ich sogar als ich selbst gelten können. Aber ich war es nicht, denn im Unterschied zu jenem lächelnden Bild wusste ich, dass wir es nicht schaffen würden. Aus den Augenwinkeln sah ich das Abbild des Stativs im Spiegel. Ich begriff, dass unser Kampf vergeblich war. Wir kämpften nicht gegen den Spiegel, sondern gegen die Welt. Umso mehr, als das Problem, so gesehen, gelöst war. Das Licht, selbst wenn es auf einen Spiegel trifft, hat ein Gedächtnis.
Der große Spiegel wusste dies und rächte sich. Großvater beharrte noch eine Weile lang darauf, Winkel zu suchen und sich unentdeckt mit seinem Stativ anzuschleichen. Wir versuchten es auch nach Sonnenuntergang, aber der Spiegel war nie schläfrig. Großvater gab sich geschlagen. Er setzte sich vor den Spiegel und sprach auf ihn ein. Redete zu seinem Bild, das ihm nicht antworten konnte. Oder aber es antwortete auf eine ganz bestimmte Weise, denn Großvater redete nach ein paar Augenblicken des Schweigens weiter. Und brachte wieder all die Sprachen durcheinander, die er kannte.
Bis eines Tages. Der große Spiegel war alt, manchmal waren die Bilder darin schräg zusammengefügt, verschwommen. Er rief mich herbei. Meine Spiegelecke war rein und mein Abbild glatt und klar. Seine Spiegelseite war etwas trüber, und das Abbild war verschwommen. Siehst du, sagte Großvater Garabet, selbst die Spiegel haben genug von mir. Es ist an der Zeit, dass ich sterbe.
Die Großeltern waren Kaufleute. Alle Reisenden meines Volkes haben auf die eine oder andere Weise Handel getrieben. Sie brachten den melancholischen Duft der Spezereien nach Europa. Sie ließen sich vom Kaffeeduft und von den Aromen der geformten
Lokum
und Halva-Stücke einhüllen. Gelangten in die westlichen Häfen, nach Amsterdam und Marseille. Von dort brachen die Mutigsten auf nach Amerika, dabei mischten sie die Kaffeebohnen oder gerösteten Kichererbsen unter den Reis, damit die feuchte Ozeanluft, die so gierig war auf Trockenes, sich von den Reiskörnern verführen und den Kaffee unberührt ließe. Die Wege der Kaufleute waren lang. Sie erwarteten ihre Waren in den Häfen, verwahrten sie in den Lagerhallen von Aleppo, Täbris oder Tiflis und zogen dann auf gesicherteren Wegen nach Odessa und Lemberg. Einige von ihnen kamen hinunter nach Suceava, wo es Rindermärkte gab, und begaben sich von dort über die Berge auf den Weg nach Wien. Andere gelangten in die nebligen Gegenden des Nordmeers. Zu jenen Zeiten waren Pfefferkörner selten und teuer. Über das zum Trocknen ausgelegte Fleisch gestreut, machten sie es einen ganzen Sommer lang haltbar, und mit ihrer Schärfe belebten sie den Körper. Die armenischen Kaufleute erhielten dafür gutes Geld, das sie zwischen den Zähnen prüften oder mit der Nadel ritzten. Oder aber sie drückten es in der geschlossenen Faust und schlossen still die Augen. Das Blut spürte das Gold, es pochte und wärmte ihre Finger.
Dann kauften sie Werkzeuge, Tuchwaren, Wein und Honig, Sachen, die man in den trockenen und gebirgigen Gegenden Anatoliens nur schwer finden konnte. In Karabagh oder Buchara tauschten die Kaufleute ihre Münzen gegen Teppiche, die in jenen rauhen Gegenden dick und weich waren, damit sie das Gras unter den Fußsohlen ersetzen konnten. Der fertige Teppich wurde auf dem Boden vor dem Geschäft ausgebreitet, damit die darüber gehenden Menschen ihn weich machten und seine Farben fixierten. Der Weg der Teppiche führte ans andere Ende der Welt, nach Bombay, Kalkutta und noch weiter, bis nach Macao und Shanghai. Dort, am Gelben Meer, endete er, und zurück ging es auf der Seidenstraße. Die Kaufleute hielten niemals inne. Von manch einem hieß es beim Anblick eines durchsichtigen Streifens am Horizont, er sei, Gelder und Zeiten vermengend, schon seit Jahrhunderten unterwegs auf den öden Straßen und durch verlassene Karawansereien.
Wenn aber Diener und Lasttiere, Esel und Kamele ihr Recht
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