Buch des Flüsterns
auf eine Rast geltend machten, zogen die Kaufleute engere, dafür nicht weniger ertragreiche Kreise. Sie beluden ihre Wagen in Jerewan oder Baku mit Früchten – Granatäpfeln, Melonen mit rotem Fruchtfleisch oder honiggelbem, sogenannte Turkestaner, faustdicken Aprikosen oder Weintrauben mit kleinen kernlosen Beeren, sommers frisch und als Rosinen getrocknet im Winter. Diese Früchte wurden auf einem kürzeren Weg nach Rostow und Simferopol gebracht, wo sie gegen gesalzenen Fisch und in Lake eingelegten Käse in Holzfässern eingetauscht wurden. Der Handel mit Lebensmitteln verlief kurzfristiger, war von den Jahreszeiten abhängig und hatte nichts von der einsamen Größe, die den Weg der Gewürze beherrschte und die Ozeane ebenso verband wie die Himmelsrichtungen. Die dunkelhäutigen Kaufleute mit pfefferkornfarbenen Augen lenkten die Karawanen, schliefen, das Kinn auf der Brust, auf dem Rücken der Pferde, prüften wie das Getier den Himmel in Erwartung der Gewitter, ließen sich die Gesichter von der Schärfe des windgetriebenen Sandes kerben und den Schneestürmen der Hochebenen. Wenn das Wasser schmaler wurde und sich aufgrund der Hitze wie die Schlangen im Boden verbarg, hatten die armenischen Kaufleute einen Granatapfelkern unter der Zunge, womit sie ihren Mund kühlten und den Durst betrogen.
Gemeinsam verfolgten wir die Wege der Karawanen. Ich mischte mich unter die ihrer Lasten entledigten Pferde, zwischen die Feuer, um die sie tanzten und die sie im Rhythmus der Trommeln und Schellen übersprangen, unter die eingenickten Gestalten, die bei ihrer niemals zur Ruhe kommenden Wanderschaft aufschraken. Dann suchte ich in der Stadt meiner Kindheit nach ihnen, in engen gepflasterten Gassen mit Holzzäunen. Ich spähte durch eingestaubte Fenster und trat hinein, suchte im Dunkel der Hanfsäcke nach dem Aroma des Kaffees und der Gewürze. Focșani, eine Stadt in der Ebene, an einer Wegkreuzung gelegen, hatte als Rastort begonnen. Dann hatte die Raststelle sich, wie jeder Erholungsort an einem Flusslauf, herausgemacht und befestigt. Die Woiwoden erhoben Zölle zwischen der Moldau und Muntenien, und die Kaufleute, die ebendort erschöpft festsaßen, banden ihre Pferde an und bauten Häuser. Riesige Bäume, wie etwa die Zedern Libanons, ziehen beim Wachsen den Boden an sich, halten ihn fest und erheben ihn. So erhoben sich auch die Städte, fest verankert mit dem großen Baum, der die Kirche ist. Nachdem der erste Altar hingesetzt worden war, tauchten um die Kirche herum die Krämerläden auf. Sie verlängerten die Straße, jeder neue Laden versuchte der erste zu sein, der die Kundschaft empfing. Diese Straße nannte sich, wie hätte es sonst sein können, Hauptstraße, und nachdem in Focșani die Kommission der Fürstentümer gegründet worden war, erhielt sie den Namen, der ihr bis heute erhalten geblieben ist: Hauptstraße der Einheit. Die Kaufleute waren verschiedener Herkunft: Armenier, die über die Lwower Landstraße aus Botoșani, Iași oder Suceava heruntergekommen waren, Griechen, die Waren von den Donauhäfen brachten, Albaner, die Zuckerwaren und Naschwerk verkauften, und Handwerker aus Vrancea, die ihr Gebirgshandwerk in der Stadt in der Ebene fortsetzten: Sie webten und fertigten Holzschnitzereien an. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen, durch gastfreundliche Gesetze begünstigt, vom Osten her auch die jüdischen Kaufleute und ließen sich an der Hauptstraße nieder. Sie begannen, eine völlig ungewöhnliche Ware zu verkaufen, die bis dahin noch niemand auf seinen Verkaufstisch gelegt hatte: die Zeit. Die Zeithändler hatten keine Regale, ihre Schaufenster, zur Hälfte von Rollläden bedeckt, wirkten nicht einladend, die Räume waren düster und die Tische schmal. Aber sie reichten aus, um diese imaginäre Ware aufzuhäufen, die in einer Stadt, welche sich bis dahin außerhalb der Zeit befunden hatte, eine große Kundschaft fand. Jene Kaufleute hatten forschende Augen, die einen durchbohrten. Sie saßen gekrümmt, die Schultern über die sich fortwährend wie Walzen reibenden Hände gebeugt. Sie benutzten keine Waagen und Gewichte, jedermanns Zeit wurde in den vergilbten Seiten eines Registerbuches eingetragen. Wer Zeit kaufen gekommen war, erfuhr den Preis erst später. Während er verbrauchte, was er gekauft hatte, nämlich den Aufschub, verwandelte sich die scheinbare Ruhe in Unruhe, die Sorglosigkeit in Besorgnis. Dies war der erste Preis, den er zahlte. Die Zeit erwies sich stets als eine
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