Buch des Flüsterns
Entschlafens der Muttergottes kommen die Frauen schon bei Sonnenaufgang und kriechen auf Knien den Berg hinauf. Sie umkreisen dreimal die Kirche und stecken kleine Zettel in die Mauerrisse, auf denen sie ihre Wünsche aufgeschrieben haben.
Gegen Ende des gleichen 16. Jahrhunderts errichteten die Armenier auf der anderen Seite von Suceava ein weiteres Kloster, das von Festungsmauern umgeben war und Zamca genannt wurde. Auch dieses gibt es heute noch. Mönche gibt es dort aber keine mehr. Menschen verschiedener Nationen versammeln sich dort und gedenken ihrer Toten. Hier gibt es einen anderen Begegnungsort. Wenn die Böden in den Niederungen zu schwer werden, steigen die Toten durch die Bodenspalten hoch, jeder wie er kann, als Gras, Dunst oder Wurzel, und sammeln die Krümel von den Festen der Lebenden ein.
Ebenso in Botoșani, Iași, Roman, Târgu-Neamț, Gura Humorului, Târgu-Ocna, Bacău, Brăila, Galați. Von Alexandru dem Guten sowie Stefan dem Großen, Herrscher der Moldau, dazu eingeladen, verbreiteten die Armenier ihren Handel, ihre Bräuche und Kirchen entlang der Handelsstraßen nach Süden hin.
Unsere Kirche wurde 1780 gebaut. Zwei, drei Straßen weiter gibt es noch eine armenische Kirche, sie ist jetzt aufgelassen, hat keinen Turm und ist von einer leeren Fläche umgeben. Früher gab es hier viele Armenier. Weil die Kirchen nicht geräumig genug waren, umgab man sie mit großen Höfen, die man vor allem in der Auferstehungsnacht nutzte.
Im Laufe der Zeit schrumpfte die Zahl der Armenier. Die zuletzt ankamen, vom Elend und anschließend von den Anfeindungen in ihren Siedlungsgebieten vertrieben, trugen frische armenische Namen und ebenso frische Wunden. Die einen wurden von den Wegen, die sie hierhergeführt hatten, weitergetrieben, andere sind gestorben, und wieder andere haben vergessen.
Es wurde beschlossen, dass unsere Kirche renoviert werden müsse. Ich werde Ihnen im Verschwiegenen alle der Reihe nach vorstellen. Den Kirchenrat. Also mein Großvater Garabet Vosganian, sein Schwager Sahag Șeitanian. Arșag, der Glöckner. Krikor Minasian, der Schuster. Anton Merzian, der andere Schuster, beide mit ihren Söhnen Krikor und Dicran. Agop Aslanian, der die Kanzleischlüssel verwahrte. Dann die Uhrmacher: Vrej Papazian, Dicran Bedrosian, Măgârdici Ceslov. Anton Grigoriu, der für alles zu gebrauchen war. Ștefănucă Ibrăileanu, der eine Zigarette an der anderen ansteckte. Dicran Haceadurian mit der großen Nase. Ohanes Krikorian mit vom Trinken geröteten Wangen. Der blinde Minas Ohanesian und mein Vater, Bergi Vosganian, der Letzte von ihnen, der hartnäckig die Dinge so bewahrt, wie sie einmal waren.
Wir zünden ringsum die Kerzen an, genau an den Stellen, wo jeder von ihnen gestanden hat. Damals gab es noch große Kerzenhalter aus Silber für die Lebenden und die Toten. Nun sind es immer mehr für die Toten und immer weniger für die Lebenden, ein kleiner Winkel.
Jeder zieht – wie eine über den Kopf gezogene Steppdecke – die Welt mit sich, in der er geboren wurde. Die Dinge stehen so: Wenn du geboren wirst, ist deine Welt die größtmögliche. Alles ist möglich. Während du heranwächst, verkleinert sich deine Welt. Du wächst ständig, anfangs wachsen deine Knochen, dann die Erinnerungen, etwas vergilbtere Knochen. Zu einem gewissen Zeitpunkt wird die Welt um dich herum so klein, dass du schlicht und einfach nirgends mehr hin wachsen kannst.
Großvater Garabet: Ich gehöre zu deiner Welt,
manciăs
– was mein Junge heißt –, aber du gehörst nicht zu meiner Welt. Mehr noch. Du fügst meinen Erinnerungen etwas hinzu, ohne meiner Welt anzugehören. In gewisser Weise beschleunigst du meinen Tod. Schiebst mich von hinten. Ich war traurig. Er aber lachte. Wie auch immer du es betrachten magst, das Leben hat keinen rechten Sinn. Wenn wenigstens der Tod irgendeinen Sinn hat, kannst du dich glücklich schätzen. So gesehen,
manciăs
, verleihst du meinem Tod einen Sinn.
Tatsächlich, ich gehörte seiner Welt nicht an. Die Fotos sahen für mich seltsam aus. Der Urgroßvater Kevork Vosganian trug einen Fes. Großvater Garabet, auf dem Foto an seiner Seite, spielte Mandoline. Er hat eine bestickte Weste an und weite Hosen. Im Hintergrund sieht man die von halbkreisförmigen Ziegeln eingefassten weißen Terrassen eines Mittelmeerhafens, vielleicht Adana. Der Himmel wirkt ruhig. Seit den Massakern, die 1909 in der Stadt gewütet hatten, waren, wie das Datum unter dem Foto anzeigt, zwei Jahre
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