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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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vermehrte und zum wichtigsten Vertreter der armenischen Gemeinde in Argentinien wurde. Bisher waren die Nischen der Gruft leer geblieben und nicht vermauert worden. Ein geeigneter Ort für Begegnungen, von denen niemand sonst etwas hören oder sehen sollte.
    Sie kamen der Reihe nach. Zuerst Arșag, der Glöckner, der die Umgebung prüfte. Dann der Pfarrer Varjabedian, gedrungen, mit weißen Haaren und einem wie von Hand rundgeschnittenen Bärtchen. Sie gingen zu den Gräbern, beteten und schwenkten da und dort das Weihrauchfässchen. Dann kamen auch die anderen: Großvater Garabet, mein Pate Sahag, Anton Merzian, Krikor Minasian, Ohanes Krikorian und die Jüngsten: Vrej Papazian, Dicran Bedrosian, Agop Aslanian und Măgârdici Ceslov.
    Was tut der Pfarrer?, fragte Măgârdici verwundert.
    Er tut nichts, klärte ihn Großvater auf. Er tut nur so, als hielte er eine Seelenandacht ab.
    Dienstags eine Seelenandacht?
    Wer weiß, das wird einer unserer armenischen Bräuche sein. Wenn heute kein passender Tag für eine Seelenandacht ist, denn Beerdigung gibt es keine, was suchen wir dann zu so vielen auf dem Friedhof?
    Sie verkrochen sich einzeln hinein. Agop Aslanian sagte:
    Ich hab Kerzen mitgebracht für den alten Seferian. Die leuchten auch uns ein bisschen.
    Die Kerzenflammen zogen die Gesichter in die Länge, und auf den Wangen begannen die Schatten zu spielen, vermischten sich mit dem wenigen Licht, das von draußen hineindrang. Ihre Augenbrauen wirkten buschiger, und die Nasen, ohnehin schon groß, schienen in den Gesichtern herumzuhüpfen. Pfarrer Varjabedian schwenkte sein Weihrauchfässchen, setzte sich und machte auch Minas noch Platz.
    Habt ihr es erfahren?, fragte Großvater.
    Jeder hatte irgendetwas gehört. Und jeder scheute sich, als Erster zu sagen, was er gehört hatte.
    Kennedy ist gestorben, fuhr Großvater im vom Weihrauchduft noch verstärkten Schweigen fort.
    Nur wenn ganz und gar ungewöhnliche Dinge vorgefallen waren, trafen sie sich in der Gruft. Und Dinge, über die man nur in der Gruft sprechen konnte, waren üble Dinge. Zum ersten Mal hatten sie sich dort getroffen, als die Nachrichten von den Repatriierten eingetroffen waren. Zum zweiten Mal, als der König abgedankt hatte. Zum dritten Mal, als Großvater aus Bukarest die Nachricht gebracht hatte, dass Bischof Vazken zusammen mit seiner Mutter zu Mitternacht aus dem Bischofssitz geworfen und das Gebäude zu einem Holzlager umfunktioniert worden war. Zum vierten Mal nach der Revolution in Ungarn. Also war es nun das fünfte Mal. Seit sie sich nicht mehr hier getroffen hatten, waren einige Jahre vergangen, was nicht hieß, dass die Zeiten nun ruhiger geworden waren, sondern noch hoffnungsloser.
    Was ist zu tun?, fragte Anton Merzian.
    Es war selbstverständlich, dass er derjenige war, der fragte. Anton Merzian sprach nur in Frageform. Niemals sagte er, heute ist es schön, sondern stets, schönes Wetter, nicht? Oder: Ich fühle mich heute nicht gerade wohl, was meinst du? Und wenn alles besprochen und keine weitere Frage offengeblieben war, beschloss wiederum er: Nun ist’s klar, oder? Und als wäre die erste Frage übereilt gewesen, stellte er gleich eine nächste: Wer steckt dahinter?
    Auf diese Frage hatte jeder seine eigene, und zwar entschiedene Antwort. Sie lauteten wie folgt:
    Sahag Șeitanian: Die Russen sind schuld.
    Der Varjabedian: Die Kubaner sind schuld.
    Arșag, der Glöckner: Die Türken sind schuld.
    Anton Merzian: Die Kurden sind schuld.
    Krikor Minasian: Die mafiotischen Lastwagenfahrer sind schuld.
    Ohanes Krikorian: Die Albaner sind schuld.
    Das mit den Albanern war ganz ungewöhnlich.
    Ich hab Radio Tirana gehört, fügte er selbstsicher hinzu. Sie haben Kennedy Rache geschworen.
    Rache wofür?, wollte Măgârdici Ceslov wissen.
    Was weiß denn ich? Rache eben, und basta.
    Die Albaner drohen der ganzen Welt ..., beharrte Măgârdici.
    Wie du siehst ...
    Aber damit waren die Hypothesen noch lange nicht erschöpft, denn:
    Vrej Papazian: Die Vietnamesen sind schuld.
    Măgârdici Ceslov: Die Mexikaner sind schuld.
    Dicran Bedrosian: Die Amerikaner sind schuld. Der Imperialismus. Kennedy war Demokrat.
    Nein, wenn du erlaubst, widersprach Sahag Șeitanian, die Imperialisten sind auf der anderen Seite, dort, wo die Sonne aufgeht.
    Die Bolschewiken kämpfen für den Frieden, verteidigte sich Dicran Bedrosian.
    Könnten sie nicht ein klein bisschen weniger kämpfen?, giftete Sahag. In diesem ganzen Friedenskampf werden wir alle noch

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