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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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zu Staub und Asche zerfallen. Hast du etwa vergessen, was sie dir angetan haben? Bist du noch immer nicht zur Vernunft gekommen?
    Dicran Bedrosian errötete. Er war der Einzige von ihnen gewesen, der sich 1944 darüber gefreut hatte, dass die Russen kamen. Als Erster war er hinaus zur Bahnschranke geeilt, um sie zu empfangen. Hatte sich auf den ersten sowjetischen Soldaten gestürzt, der ihm begegnet war, und ihn auf beide Wangen geküsst. Der Soldat hatte sich etwas verdutzt umarmen lassen, dann aber strahlte plötzlich sein Gesicht, er steckte ihm den Gewehrlauf unters Kinn und wies auf sein Handgelenk. Zuerst wollte Dicran Bedrosian es nicht glauben, aber als er das Klacken des Gewehrs beim Durchladen hörte, erstarrte er. Er nahm die Uhr vom Handgelenk und gab sie ihm. Der sowjetische Soldat hatte allen Grund, zufrieden zu sein. Dicran Bedrosian war Uhrmacher, er hatte gewusst, was er für sich auszuwählen hatte. Der Soldat schnappte sich die Uhr und stieß Dicran mit dem Gewehrkolben in den Straßengraben. So hatte Dicran Bedrosian, der glühende Bewunderer des Bolschewismus, im Schlamm kniend, abwechselnd das Handgelenk und den Stich unterm Kinn reibend, ansonsten reglos und zitternd, die Ehre, als Erster, wenngleich in etwas unbequemer Haltung, die glorreiche sowjetische Armee in Augenschein nehmen zu können.
    Wie sollte der zur Vernunft gelangen?, brummte Krikor, der Schuster.
    Und an Dicran gewandt: Bring ihnen auch die große Uhr aus der Kirche. Damit sie sie an den Kremlturm hängen.
    Also, sprach jetzt wieder Anton Merzian: Wer ist nun schuld?
    Diesmal kam die Antwort mehrstimmig, aber als eine einzige, mithin klärende:
    Die Boltürkurkubamexalbanamsen ...
    Großvater hob die Hand. Es wurde still.
    Der Krieg wird sich verschärfen, sagte er.
    Warum sollte er sich verschärfen?, fragte Arșag. Es gibt jetzt doch gar keinen Krieg.
    Die Menschheit steht am Scheideweg, sagte Großvater. Es handelt sich um eine verdeckte Wegscheide. Die Wörter kämpfen an unserer Stelle. Und wir sterben an ihrer Stelle.
    Wir warten darauf, dass die Amerikaner kommen, und die sterben ..., klagte Măgârdici.
    Ein bisschen leiser, mahnte Sahag. Geh noch eine Runde hinaus, Vater, und schwenk das Weihrauchfass.
    Der Varjabedian erhob sich mit dem Weihrauchfass und trat auf die Schwelle. Ich entfernte mich schnell mit meinen Kastanien, damit er mich nicht beim heimlichen Lauschen ertappte. Der Pfarrer rief mich herbei und gab mir eine Hostie. Dann ging er wieder hinein und hängte das Weihrauchfass an die Wand.
    Ist jemand auf dem Friedhof?, fragte Großvater.
    Nur der liebe Gott und diejenigen, denen er schon vergeben hat.
    Du hättest etwas weniger Weihrauch nehmen können, klagte Vrej Papazian. Wir ersticken hier noch ...
    So muss es zum Seelengedenken sein. Es muss dicker Rauch rauskommen, klärte ihn Arșag auf.
    Anton Merzian kratzte sich am Kopf: Mag schon sein, wie heißt es da? Möge ihnen die Erde leicht sein, nicht? Aber was machen wir jetzt?
    Was sagen die Juden?, ereiferte sich Agop Aslanian. Fragen wir Doktor Argintaru. Wenn da etwas ist, erfahren die es zuerst ... Wenn die Juden sich aufmachen, müssen auch wir uns rühren. Dann heißt es, dass es wieder losgeht ...
    Ich gehe nirgends mehr hin, gut?, sagte Anton Merzian entschieden. Hab ich meine Rente? Hab ich. Einen Ruheplatz auf dem Friedhof? Gott sei’s gedankt, und zwar für alle Ungeborenen auch noch. Wirft die Schusterei noch was ab? Und Zaruhi, mein Weib, was soll man da sagen, ist sie nicht taub wie ein Stück Holz? Wo soll ich noch hinziehen?
    Auch ich würde mich nicht mehr von der Stelle rühren, so Arșag. Halten wir fest: Von Șabin-Karahisar nach Aleppo, von Aleppo nach Odessa, Chișinău, Brăila, Silistra und jetzt, nach dem Krieg, hierher, nach Focșani. Ich habe in meinem ganzen Leben nicht einmal so viel zusammengetragen, wie auf einen Pferdewagen passt.
    Du hast leicht reden, nicht?, sagte Anton Merzian. Ich aber, der ich mir ein Haus gebaut habe, soll ich es wie eine Schnecke auf den Rücken nehmen?
    Um vom Grabplatz auf dem Friedhof gar nicht erst zu reden, nicht wahr?, äffte Krikor ihn nach.
    Zwischen ihnen bestand eine alte Rivalität. Ihre Eltern waren Schuster in Malatya gewesen. Und da ihre Läden in der gleichen Straße lagen, schauten sie scheeläugig jeweils auf den Laden des anderen und trachteten danach, sich gegenseitig die Kunden wegzuschnappen. Zu jener Zeit war die Schuhmacherei höchst angesehen, und es gehörte schon

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