Buch des Flüsterns
werden.
Die Ratsmitglieder hatten die Blicke gesenkt. Auch ihnen gefiel dieses Wort nicht.
Konvois brechen irgendwo auf, aber niemand weiß, wohin sie ziehen.
Oder ob sie irgendwann ankommen werden ..., flüsterte der alte Nșan Maganian, ein Lehrer, der aus Ploiești gekommen war und schweigsam den einen ebenso wie den anderen zugehört hatte.
Hätte er laut ausgesprochen, was ihm durch den Kopf ging, so hätte er das Gleiche wie Sahag Șeitanian gesagt. Er hatte zusammen mit seiner Frau Aziv, die ihre einjährige Tochter auf dem Arm hatte, an den Konvois teilgenommen, die aus Zeitun in die Wüsten Mesopotamiens aufgebrochen waren. Das Mädchen hatte die Gluthitze nicht überlebt. Sie hatten seinen Schlaf bewacht, es wiederzubeleben versucht, indem sie es an die Brust drückten, aber alles war vergeblich. Das Mädchen atmete nicht mehr. Sie taten das Einzige, was es noch schützen konnte, diesmal vor den Wüstenraubtieren, sie gruben ihm ein tiefes Loch im Sand. Erst lange danach sprach Azniv aus, was sie seitdem beunruhigt hatte, indem sie fragte, sich vielmehr selbst fragte: Was, wenn sie noch gelebt hat, und wir sie lebendig begraben haben? Wir hätten sie mit einer Nadel stechen müssen, um uns zu vergewissern ... Deshalb hatte der alte Maganian in Bukarest geschwiegen, als von den Konvois mit Repatriierten die Rede war. Und aus dem gleichen Grund schwieg Sahag Șeitanian nicht.
Aber die Zeitläufte schienen Astvadzadurian, dem Priester eines andersgearteten Gottes, recht zu geben. Die neuen Autoritäten flößten Furcht ein. Astvadzadurian kam auch nach Focșani. Großvater hatte vorgeschlagen, die Begegnung mit ihm in der Kirche stattfinden zu lassen, aber die Abgesandten aus Bukarest lehnten ab. Vielmehr wurde dem Pfarrer Dagead Aslanian geraten, sich zu seinem Wohl nicht zu zeigen. Der Saal des Pastia-Theaters war mit roten Draperien ausgeschlagen. Im Bühnenhintergrund hing ein Lenin-Bildnis, zu seiner Linken das Porträt des Generalissimus Stalin und zu seiner Rechten jenes des jungen Königs Michael. Auf der Bühne ein Präsidium, das aus den Repräsentanten der Armenischen Sowjetrepublik bestand: Papken Astvadzadurian, Vorsitzender des Repatriierungskomitees, sein Stellvertreter, Eduard Fabrikov, der Abgesandte der Sowjetischen Botschaft, ebenfalls ein Armenier, Sava (Sahag) Dongulov, und seitens des rumänischen Repatriierungskomitees in Bukarest Harutiun Baboian. Die Mitglieder der armenischen Gemeinde wurden in die ersten Reihen plaziert. Die Stühle etwas weiter hinten waren von unbekannten, finster dreinblickenden Gestalten besetzt. Großvater betrachtete die Repräsentanten der neuen Ordnung ebenso beunruhigt wie alle anderen, glichen sie doch in Habitus und Strenge kaum mehr den bis dahin gekannten Autoritäten. Auf beiden Seiten der Bühne standen in Ledermäntel gekleidete Männer, die drohende Blicke in den Saal warfen.
Von hinten kam jemand und begann, in den ersten Reihen rote Fähnchen zu verteilen; die Armenier wussten nicht, was sie damit tun sollten. Sahag war drauf und dran, seines wegzuwerfen, da verzog aber Großvater eine Braue und gebot ihm, damit noch zu warten. Also legten sie sich die Fähnchen auf den Schoß und schauten verwundert einmal die vor ihnen Stehenden, einmal über die Schultern jene Unbekannten an, die hinter ihnen ihre finsteren Mienen zur Schau stellten.
Lies!, sagte Großvater, indem er im Kanzleizimmer die Zeitung
Bahag
, die einzige armenischsprachige Publikation, die nach der sowjetischen Okkupation noch erscheinen durfte, dem Glöckner hinstreckte.
»Sonntagvormittag. In Focșani eilen die Armenier gruppenweise in den Saal des Pastia-Theaters. Zur angekündigten Uhrzeit trifft die Delegation ein: Die Zuhörer klatschen stehend Beifall ...«
Arșag, der Glöckner, hält verwirrt inne und wendet die Zeitung zu den anderen hin, als wollte er zeigen, dass genau dies darin stehe.
Lies weiter, ist Großvater Garabets Stimme zu vernehmen, der mit dem Zeigefinger auf die vor ihm auf dem Tisch liegende Zeitungsseite klopft.
Arșag sieht sich im Kreis um, schluckt einmal trocken und buchstabiert, um erst einmal selber den eigenen Ohren zu trauen.
»Erwartungsvolle Erregung herrscht im Saal. Über allem ein schier endloses Gemurmel. Und großer Respekt bei allen. Plötzlich verstummt der Saal für einen Augenblick; die Herzen der Armenier klopfen. Ihr Freund, Dr. Astvadzadurian betritt die Tribüne. An seiner Brust leuchtet eine rote Fahne. Glühender
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