Buch des Flüsterns
Enthusiasmus erfasst die Zuhörerschaft. Der gesamte Saal skandiert. Beifall, Hurrah-Rufe, Ovationen.«
Sie recken die Hälse. Arșag lässt die Zeitung wieder sinken.
Das sollen wir gewesen sein?, fragt endlich Anton Merzian.
Wie du siehst, antwortet Krikor Minasian, der andere Schuster.
Arșag faltet die Zeitung zusammen und legt sie an die Tischkante. Großvater fordert ihn nicht mehr auf weiterzulesen. Und trotzdem ist die Stimme von Astvadzadurian zu vernehmen, beinahe befehlend. An den Wänden wächst der Putz über die Bildnisse der Heiligen, der Herrscher und Generäle. Die Wände werden weiß, die Bilder ziehen sich zurück, die Gesichter zergehen wie ein in Wasser versenkter Salzklumpen.
Astvadzadurians Stimme ist zu hören, gleichmäßig und kraftvoll. Nichts ist wichtiger oder weniger wichtig, alles ist sehr wichtig.
Heute entwickeln wir uns in Freiheit, weil sich alles in den Händen des Staates befindet und vom Staat unterstützt wird. Wenn wir heute die Möglichkeit haben, frei zu leben und zu arbeiten, wenn die gesamte Welt von der Sklaverei errettet ist, sollten wir nicht vergessen, dass wir dies allein der Sowjetunion und der Roten Armee verdanken, die beide vom Generalissimus Stalin geleitet werden.
Von hinten ist frenetischer Beifall zu hören. Die in den ersten Reihen erschrecken. Die einen, schüchterner, führen ihre Hände zusammen, simulieren ein zaghaftes Klatschen. Man könnte meinen, sie beteten.
Macht mit und unterstützt die rumänischen demokratischen Organisationen, nur so werdet ihr eurer sowjetischen Heimat dienen. Das Schicksal des armenischen Volkes ist aufs Engste verknüpft mit dem großen russischen Volk, das uns mit elterlicher Fürsorge unterstützt und verteidigt hat. Entlarven wir die Perfidie der armenischen
Da
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nagisten
, die ihr Vaterland verraten und sich wie Lakaien den Hitleristen angedient haben!
Die hinteren Reihen werden vom Aufruhr gepackt. Sie schreien ihre Empörung heraus: Nieder mit ihnen! Astvadzadurian spricht Armenisch. Er versteht nicht, was auf Rumänisch im Saal geschrien wird. Die in den hinteren Reihen verstehen nichts von Astvadzadurians Vortrag, denn sie können kein Armenisch und erkennen nur Eigennamen, ja selbst von diesen nicht alle. Erst recht wissen sie nicht, wer die
Da
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nagisten
sind. Aber sie sehen, dass auf dem Balkon ein Arm nach oben weist, was für sie bedeutet, dass sie sich erheben und applaudieren müssen. Weist der Arm nach unten, so müssen sie empört sein. Am naheliegendsten und in keiner Situation verkehrt ist es dann, »Nieder mit ihnen!« zu rufen. Auch wenn überhaupt nicht klar ist, von wo man sie herunterholen will.
Der Sprechende versteht die Rufe aus dem Saal nicht. Die Rufer verstehen seine Rede nicht. Und trotzdem sind beide miteinander zufrieden. Großvater Garabet, Sahag Șeitanian, Krikor Minasian, Anton Merzian, Arșag, der Glöckner, und die anderen spüren, dass ihnen immer weniger Raum bleibt zwischen der rot drapierten Bühne, die sich mit immer neuen Treppenstufen in den Saal hinein verlängert, und den Rufen hinter ihnen, wo nun auch getrampelt wird, die sie einklemmen und anpöbeln. Gewiss denkt Großvater Garabet an seine verhafteten und nach Sibirien deportierten Freunde. Er weiß es noch nicht, aber die Rufe waren berechtigt. Nieder mit ihnen! Zu diesem Zeitpunkt, Anfang November 1945, waren die Brüder Hovnanian schon tot und in Massengräber geworfen worden; lange Zeit bestellten die Bauern aus Furcht, auf eines dieser Gräber zu stoßen, ihre Felder in der Nähe der Lager nicht. Tiefer hinab ging es nicht. Nieder mit wieder anderen. Und Astvadzadurian ist noch nicht zu Ende.
Im entschlossenen Gleichschritt mit den anderen Brudervölkern der Sowjetunion schreitet das armenische Sowjetvolk triumphierend dem Fortschritt entgegen und auf die Gipfelpunkte der menschlichen Zivilisation zu. Eine gewaltige Anstrengung. Gigantische Arbeitsleistung. Eine heldenhafte Epopöe, die jede Vorstellungskraft übersteigt. In alle vier Windrichtungen verstreute Armenier wünschen nun, in ihr Vaterland heimzukehren. Ihr Ort ist die Sowjetische Republik Armenien. Sie möchten Sowjetbürger werden und dem armenischen Sowjetstaat ihren Tribut an Arbeit und Schöpferkraft darbringen.
Auf ein Zeichen hin erhebt sich die Zuhörerschaft. Die in den ersten Reihen, sie haben das Zeichen vom Balkon nicht verstanden, erheben sich langsam der Reihe nach. Ihr Schweigen kann nicht gehört werden.
Großvater Garabet ist
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