Buch des Flüsterns
der Einzige, der aufrecht stehen bleibt. Er legt die Hand auf die Zeitung, als wollte er den Rhythmus des Klatschens, das ihnen noch in den Ohren dröhnt, zum Verstummen bringen. Er lässt seinen Blick über die Köpfe der anderen schweifen.
Sahag?, fragt er.
Sahag Șeitanian schweigt.
Anton?
Anton Merzian schweigt ebenfalls uns senkt den Blick.
Krikor?
Der Schuster reibt seine knotigen Hände. Großvater nennt der Reihe nach die Namen jedes Einzelnen. Das Schweigen hat, ebenso wie das Beifallsklatschen, seinen eigenen Rhythmus.
Simon?
Er antwortet auf seine Weise:
Der Boden ... unser Boden.
Da begriff Sahag Șeitanian, dass sein Bruder gehen wird. Für Simon, der die Welt verkehrt herum, nämlich zum Erdmittelpunkt hin betrachtete, spielten die Argumente der anderen kaum eine Rolle. Alles, was über der Erdoberfläche geschah, schien ihm ebenso unbedeutend wie Grashalme. Im Himmel fühlte mein Onkel Simon sich wie lebendig begraben.
Er trug seine Sachen zusammen, nahm seine Frau und die beiden Töchter, Arpine und Hermine, und ging. Großvater Garabet und Onkel Sahag begleiteten ihn im Zug bis nach Constanța. Im Hafen lag gewaltig, lärmend und Vertrauen einflößend das Schiff »Rassia«. Nun war Frühling 1946. Nachdem er ihn umarmt hatte, sagte Großvater Garabet nicht, er möge uns schreiben, denn Onkel Simon war das Schreiben nicht so geläufig. Seine beim Kneten des Tons so fleißigen Finger, waren angesichts eines weißen Blattes Papier gänzlich ungelenk. Er sagte: Schick uns ein Foto. Onkel Simon, der als Knabe einst Schätze gesucht hatte, nunmehr ein kräftiger Mann, antwortete wie folgt: Ich werde euch eine Fotografie schicken, aus der ihr alles verstehen werdet. Wenn das Foto mich aufrecht stehend zeigt, ist alles in bester Ordnung. Wenn ich mich irgendwo anlehne, an eine Wandecke oder an eine Stuhllehne, dann ist’s so und so. Wenn ihr mich sitzen seht, steht es schlimm. Auch andere hatten sich solche Hinweise ausgedacht, um geschützter und einfacher die Situation zu erklären. Jahrelang kam kein einziges Foto aus dem sowjetischen Armenien. Das erste Foto kam erst 1949 an, und zwar erhielt es die Familie Andonian in Bukarest. Das Foto ging in der Kirche von Hand zu Hand. Die Familie hatte sich wie es eben ging vor der Kamera zusammen gedrängelt. Das Oberhaupt der Familie, Nerses Andonian, stand weder aufrecht noch lehnte er an etwas, auch saß er nicht, sondern er lag im Gras. Da war es jedoch schon zu spät. Die Repatriierungen hatten 1948 aufgehört, 1949 hatten schon die Deportationen begonnen.
Noch sind wir im Jahre 1946. Die Repatriierten versammelten sich auf dem Deck der »Rassia«, jeder wollte als Erster das Land hinter dem Meer sehen. Glücklicherweise war das Wetter gut, denn sonst hätten sie in die Kabinen gehen müssen, wo der Platz nicht für alle reichte. Nachts schliefen sie in dicke rauhe Decken gehüllt auf dem Deck. Dort aßen sie auch von über den Holzkoffern ausgebreiteten Zeitungsseiten.
Am diesseitigen Ufer des Meeres sucht Großvater Garabet in armenischen und rumänischen Zeitschriften nach Korrespondenzen aus der Armenischen Sowjetrepublik. Arșag liest, aber Großvater, bewanderter mit den lateinischen Schriftzeichen und vom Buchstabieren des Glöckners gelangweilt, nimmt ihm die Zeitung aus der Hand und fährt fort:
»Vor der Einfahrt des Schiffes ›Rassia‹ in den Hafen von Batumi löste sich ein Motorboot vom Kai und nahm Kurs auf das Schiff mit den Repatriierten. Wenige Minuten später stieg ein armenischer General in Begleitung von Dr. P. Astvadzaturian, der ein sechsjähriges Kind auf dem Arm hatte, über die Brücke an Land. Währenddessen spielte ein von den Repatriierten zusammengestelltes Orchester an Bord des Schiffes. Unter dem Applaus und den Hurrah-Rufen der auf dem Kai Versammelten begannen sich die Kolonnen der Repatriierten in die Stadt zu ergießen. Überall wurden die Neuankömmlinge wärmstens begrüßt. Ein Augenzeuge beschreibt die Szenen, die sich im Hafen von Batumi abgespielt haben. Umarmungen, Küsse, Weinkrämpfe; ein allgemeiner Freudentaumel. Dann werden die Repatriierten zu den speziell für ihre Verweildauer in Batumi eingerichteten Wohnungen geleitet, wo sie bis zu ihrer Weiterreise nach Jerewan wohnen werden.«
Ob es wohl so war?, fragte Anton Merzian.
So war es. Denn erst nach einer weiteren an Deck verbrachten Nacht sahen sie morgens in einiger Entfernung den Hafen. Manch einer hatte sein bisheriges Leben auf der
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