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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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nazistische Deutschland, wodurch unsere Helden hinter den russischen Panzern eingereiht werden und den roten Stern auf ihre fahlen Stirnen verpasst bekommen.
    Ein trauriges, von Gewissensbissen geplagtes Jahr, das im Versuch, die kommenden Zeiten etwas zu versüßen, Madonna gebiert, Sharon Stone und die blonde Barbie-Puppe.
    Was mich betrifft, erinnert Mutter sich, dass man im Augenblick meiner Geburt unter den Fenstern einen von der Blaskapelle begleiteten Leichenzug vorbeiziehen hörte. Mithin geschah dies zur Mittagsstunde. Die Helferinnen drängelten zu den Fenstern und Mutter schrie mit erschöpfter und schreckverzerrter Stimme: Das Kind fällt heraus! Ich fiel nicht. Dafür habe ich im Bogen gepinkelt und somit auf die selbstverständlichste Weise meinen Einstand im Verhältnis zur Welt gegeben. So erfuhr Mutter, ohne jemanden fragen zu müssen, dass sie einen Sohn geboren hatte. Wer derjenige war, der zum scheppernden Klang der Blechbläser und unter eher neugierigen denn trauernden Blicken zu Grabe getragen wurde, der gestorben war, um den Platz auf der Welt für mich frei zu machen, sollte ich nie erfahren.
    Ebenfalls im Augenblick meiner Geburt fand in Bukarest Gheorghiu-Dejs Empfang anlässlich des Abzugs der letzten sowjetischen Militäreinheit aus Rumänien statt. Auf diese Weise begegnete ich in den ersten Momenten nach meiner Geburt dem Tod ebenso wie der Geschichte, und meine Geburt geriet an einen Kreuzungspunkt. Mit ihr überstieg die Zahl der Lebenden die der jemals und bis zu diesem Zeitpunkt Ermordeten.
    Die alten Armenier meiner Kindheit hatten dreierlei Ereignisse erlebt: Ereignisse, die sie mieden, Ereignisse, die sie erwartet hatten, und Ereignisse, die sie vollends unerwartet trafen. Sieht man sich die Sache genauer an, so können alle Umstände, die sie durchzustehen hatten, zur letzten Kategorie gezählt werden, denn die Ereignisse, die sie gemieden hatten, haben schließlich doch stattgefunden, und die Ereignisse, die sie stets erwartet hatten, traten nicht ein. So gesehen, sind die Lebensläufe meiner Großeltern eine Art Chronik der unerwarteten Ereignisse.
    Von den unerwarteten Ereignissen zu sprechen, ist auch eine Weise, das
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zu schreiben. Die Dinge aufzulisten, welche sie zu vermeiden trachteten, würde bedeuten, das
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verkehrt herum zu erzählen. Doch hinsichtlich der Dinge, deren Eintreffen sie erwarteten, hatten sich die Alten meiner Kindheit schon in zwei Lager aufgespalten, als sie noch nicht so alt waren wie jetzt: in diejenigen, die auf die Ankunft der Russen, und die, die auf die Amerikaner warteten. Letztlich aber verschmolzen beide Lager zu einem, denn nachdem die Russen tatsächlich gekommen waren und sich in Besäufnissen überboten, sich auf den Uhrenklau verlegten, ihr Beutegut bestaunten, wie Kolumbus’ Indianer die Glasperlen bestaunt hatten, den Mädchen auf den Brachflächen am Rande der Stadt hinterherjagten und allerlei ungelernte Arbeiter und Tagelöhner in wichtige Ämter beförderten, verwandelten sich diejenigen, die auf die Ankunft der Russen gewartet hatten, ernüchtert in solche, die fortan auf die Amerikaner warteten. Das prorussische Lager bestand bei meinen alten Armeniern eigentlich nur aus einem Mann: Dicran Bedrosian. Geläutert, doch immer noch unter Verdacht stehend, denn man meinte, der Bolschewismus sei wie der Rheumatismus eine Krankheit, die einen für eine Weile verschont, von der man allerdings niemals geheilt werden könne, wurde Dicran Bedrosian im Kirchenvorstand und im proamerikanischen Lager aufgenommen, ja selbst bei den geheimen Sitzungen, die in Seferians Gruft abgehalten wurden, durfte er mit anwesend sein.
    Im anderen Lager waren folglich alle anderen. Einige von ihnen hatten schon früher auf sie gewartet und waren immer noch nicht geheilt. Und nicht nur auf die Amerikaner warteten sie, sondern auch auf die Engländer und die Franzosen. Sie erinnerten sich noch daran, wie ihre Eltern zur Zeit des »Roten Sultans« Abdul Hamid, entsetzt über die Greuel, die man sich über die Massaker des Jahres 1895 erzählte, auf die amerikanischen Schiffe gewartet hatten, damit diese die Meerengen füllten und sie retteten. Von ihren Eltern hatten sie auch gehört, wie Armen Garo und die Gruppe, die die Osmanische Bank besetzt hatte, von einem englischen Schiff gerettet worden waren. Auch weilten noch ein paar derer unter den Lebenden, die von den französischen Schiffen gehört hatten, die gekommen waren,

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