Buch des Flüsterns
die Visionen des Heiligen Lichtbringers Gregor, über Vartan Mamigonian und David Beg, über Kevork Ceauș und über den General Antranik, wahre Geschichten oder solche, die durch ständiges Wiederholen wahr wurden. Die Geschichte über die Waffen des Generals Dro ist jedoch eine jener Geschichten, von denen niemand wusste, ob sie wahr war. Diejenigen, die es wissen konnten, waren gestorben oder geflohen, und wer etwas wusste, sagte es keinem weiter, denn er wusste auch, dass er damit den anderen bloß die Köpfe vernebeln und ihre Hoffnungslosigkeit vertiefen würde. Einer von denen, die sich darauf versteift hatten, an den Wahrheitsgehalt der Geschichte zu glauben, oder vielmehr an ihre Illusion, war Sahag Șeitanian, er war es auch, der sie mir kurz vor seinem Tode erzählte. Eigentlich erzählte er Bruchstücke; das
Buch des Flüsterns
ist eine Geschichte, die niemand ganz erzählte, als hätte sich jeder gefürchtet, alles zu verstehen, und auf diese Weise versucht, sein Leben vor der Sinnlosigkeit zu bewahren.
Der Anfang der Geschichte ist eine Fotografie. Das Ende der Geschichte ist der kurze Satz, den mir Sahag Șeitanian kurz vor seinem Tod zuflüsterte, als er es für angebracht hielt, mir einiges von dieser Geschichte mitzuteilen: General Dros Waffen sind in einem Wald versteckt. Solche Geschichten, die aus nur einem Satz bestehen, zeigen an, dass sie nur deshalb so kurz sind, weil sie im Grunde endlos sind. Solche Geschichten wird es so lange geben, wie die Menschen sich auf die Vorstellung versteifen, dass jenseits dessen, was ihnen widerfährt, über ihren Köpfen noch etwas anderes geschehen kann, das auf dem Höhepunkt ihrer Verzweiflung vielleicht getan werden könnte. Sie wissen nicht genau, was, wissen auch nicht, wie, doch eben in dieser Unklarheit steckt die Unbesiegbarkeit der letzten Hoffnung.
Das erste Foto zeigt General Dro auf einem weißen Pferd auf einer Lichtung, in deren Hintergrund eine Gruppe junger Bäume steht. General Dro trägt eine Felduniform mit dem diagonal darüber liegenden Offiziersgurt und einem Leibriemen, an denen alles hängt, was zur Kriegsführung benötigt wird. Auf dem Kopf trägt er eine weiße Schaffellmütze, die er über die Ohren und tief in die Stirn bis knapp über die kräftigen und geschwungenen Brauen gezogen hat. Er hat einen schwarzen Bart, den er sich später, als er von weißen Fäden durchzogen wurde, abrasieren sollte. Der herausfordernde Blick und die eingeübte Haltung – der Rücken gerade und eine Hand auf dem Oberschenkel ruhend – verraten, dass es sich um ein Foto handelt, das eher für andere als für ihn selbst angefertigt wurde. Es ist das Foto des Siegers von Sardarapat. Der Sieg über die russischen Truppen im Jahre 1918 gewährte der kleinen Armenischen Republik eine kurze Existenz. Drastamat Kanayan oder General Dro, wie sein Guerrilla-Name lautete, Verteidigungsminister geworden, sollte unermüdlich um die Wahrung der fragilen Unabhängigkeit seines Landes bemüht sein und angesichts des aggressiven Panturkismus der Türkei sowie des Bolschewismus Russlands nicht wissen, wem gegenüber er Konzessionen machen und gegen wen er kämpfen müsse. Schließlich entschied die Geschichte; die Armenier machten den einen wie den anderen gegenüber Konzessionen, und die Türkei teilte sich die armenischen Gebiete mit Russland. General Dro aber beschloss, zeit seines umtriebigen Lebens sowohl gegen die einen wie gegen die anderen zu kämpfen. Von den Russen verhaftet und drei Jahre unter Beobachtung gehalten, wurde dem General 1924 die Ausreise nach Rumänien gewährt, wo er bis 1944 blieb.
Ein zweites Foto erzählt von General Dro, nunmehr fülliger geworden, das Haar weiß, aber mit den gleichen geschwungenen schwarzen Brauen und dem gleichen verschatteten Blick. Großvater hatte einen vorteilhaften Ausschnitt ausgewählt, im Hintergrund kann man die Blocks auf der Armenischen Straße sowie eine Trauerweide sehen, die es auch heute noch gibt. Links kann man die Spitze einer Tanne sehen. Das Foto ist anlässlich der Enthüllung eines Denkmals für General Antranik im Hof der Armenischen Kathedrale in Bukarest aufgenommen worden. Die Statue steht inmitten eines mit Bändern durchwirkten Blumenrings. Ihre Stufen sind mit bunten Teppichen belegt, wie sie vielfach bei den Armeniern vorhanden waren, mit weiteren Sträußen und Bändern, über die General Antranik, ein Mann der schmalen Gebirgspfade sowie des schlichten und rauhen Lebens, nicht
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