Buch des Flüsterns
die Kämpfer auf dem Musa-Berg zu retten, und die dann, etwa wie mein Urgroßvater Setrak, damals ein fünfzehnjähriger Knabe, loszogen, tagsüber irgendwo wie die Tiere zusammengekauert schliefen und nachts an Waldrändern oder Mauern entlang, Dörfer und Straßen meidend, in türkische Gewänder gekleidet, sich bis in den Süden ans Ufer des Mittelmeers durchschlugen. Aber es kamen keine englischen oder französischen Schiffe mehr, und nach der Schlacht von Gallipoli, die der Hauptmann von Saloniki, Kemal Pascha, der zukünftige Atatürk, 1916 gewonnen hatte, zeigten sich auch keine Amerikaner mehr. Vielmehr, erinnerte Anton Merzian, der Schuhmacher von der Strada Unirii, haben die Amerikaner sogar die kleine Armenische Republik preisgegeben, indem sie das beim Vertrag von Sèvres angebotene Protektorat ausschlugen. Sie werden uns nicht im Stich lassen, sagte mein Taufpate Sahag Șeitanian, der auch nachdem Arșag, der Glöckner, ihnen in Seferians Gruft, das Ohr am hölzernen Gehäuse des Radios, die Nachrichten der BBC über die Konferenz von Jalta wiedergegeben hatte, von diesem Spruch nicht lassen wollte. In der Zwischenzeit waren die Russen in Focșani einmarschiert, waren die armenischen Intellektuellen in Bukarest und Constanța verhaftet und in die Lubjanka verschickt worden, um dort wie Gemüse sortiert und anschließend nach Sibirien deportiert zu werden; in Bukarest wurde die Front der Armenier gegründet, die als erste Maßnahme den Kampf gegen die Bücher der armenischen Bibliothek »Hovsep und Victoria Dudian« und die Fotografien an den Wänden begann und alle, die man für geeignet hielt, die neue Zeit zu schädigen, drunter und drüber in Kartonkisten packte, um sie schließlich im Hof der Kathedrale zu verbrennen. Im Gemeindebüro der Armenischen Kirche von Focșani verzichtete man zuerst auf das Foto Roosevelts und dann auf das von Churchill. Zuletzt verzichteten sie verbittert auch auf das Bild des Königs, dessen Rücktrittserklärung sie im Radio lauschten und dabei ihren Ohren nicht trauten. Sahag Șeitanian wollte um nichts auf der Welt das Foto des Generals Antranik verstecken, der gegen die osmanische Okkupation ebenso gekämpft hatte wie gegen die bolschewistische, auch nicht auf das seines Gefährten und Waffenbruders Kevork Ceauș, wobei er mit einigem Recht damit argumentierte, dass die beiden in militärischer Haltung dargestellt seien, Patronengurte und Astrachanmützen trügen und somit jederzeit eventuellen Besuchern des Gemeindebüros als Suren Spandarian, der ein Mitarbeiter von Lenin war, und Stepan Șahumian, Kämpfer von Baku, präsentiert werden könnten, die beide zu früh gestorben waren, als dass sie in die Bildergalerie der bolschewistischen Führungspersönlichkeiten hätten aufgenommen werden können. Mit dem allmählichen Verschwinden der Bücher aus den Regalen und der Fotos von den Wänden schwanden auch die Hoffnungen. Nur eine war noch übrig geblieben, die nur noch von wenigen und eher selten ausgesprochen wurde, auch klang sie dann eher nach einer Meinung denn wie ein Zeichen von Vernunft. Diese Geschichte aber wird, wenn man so sagen kann, eine der verschwiegensten im
Buch des Flüsterns
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DIE WAFFEN DES GENERALS DRO . Ich habe schon von der Begegnung in Seferians Gruft erzählt, von der letzten, die infolge des Attentats auf Präsident Kennedy einberufen worden war. Damals konnte keiner der alten Herren meiner Kindheit, die sich von allerlei imaginären Bedrohungen umstellt sahen, auf die Frage antworten, was nun zu tun sei. Und doch hat mein Onkel Sahag Șeitanian es mit leiser Stimme getan, als fürchtete er, von jemandem gehört zu werden. Er schlug vor: Suchen wir die Waffen von General Dro. Plötzlich schwiegen alle, und Pater Varjabedian bekreuzigte sich, nicht weil er einen bösen Gedanken zu verscheuchen trachtete, sondern weil die Waffen des Generals Dro das Letzte waren, was man hätte suchen können; eine verzweifelte und heroische Tat, zu der manch einer von ihnen 1945 vielleicht noch in der Lage gewesen wäre, keinesfalls jedoch im Jahre 1963, und zwar nicht wegen der seitdem vergangenen Jahre, sondern wegen der Ereignisse, die sie überwältigt hatten.
Über die Waffen des Generals Dro hat Großvater Garabet mit mir nie gesprochen. Er hat mir viele Geschichten erzählt, über Thaddäus und Bartholomäus, die Apostel, welche die Armenier zum Christentum bekehrt hatten, über die heiligen Märtyrer Gaiane und Hripsime, über den König Drtad und
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