Buddha-Boy

Der Tausendfüßler saß jetzt auf der Tasche des einen Mädchens. Das Gekreische ging wieder los und Woody schrie: »San! Tu was!«
    Ich brüllte: »ICH? Ich kann das Ding nicht töten!«
    Sie sah mich an, als ob ich ein Märchenprinz wäre. »Ach, ich weiß, San. Deine buddhistische Ehrfurcht vor allem Lebenden, stimmt’s?«
    Nein , dachte ich, mein feiger Ekel vor giftigen Biestern mit viel zu vielen Beinen . »Hmm, stimmt.«
    Â»Du bist nicht der Einzige, der recherchieren kann, San Lee. Bring das Ding bitte raus, bevor jemand drauftritt.«
    Na klar – fünf Typen einschließlich Peter umringten die abstoßende Kreatur mit erschreckender Geschwindigkeit. Wenn ich nicht blitzschnell handelte, wäre die Tasche des Mädchens mit einer dünnen Schicht knackiger Spezialsoße überzogen und Woody würde denken, dass ich den Tausendfüßler nicht ehrte.
    Ist es nicht komisch, wie beschissen das Leben immer wieder sein kann?
    Â»Okay«, sagte ich im Befehlston. »Ich bring ihn weg. Alles zurücktreten! Wir wollen dem kleinen Kerl nicht noch mehr Angst machen, als er schon hat.« Oder ich schon habe. Ich ging in die Hocke, so dass die Ungeziefertasche mit mir auf Augenhöhe war, und hob den Riemen über der Stuhllehne vorsichtig an. Ich betrachtete den Tausendfüßler. Er schwenkte seine abscheulichen Greifer in meine Richtung. Ich sah Mr Dowd an, der hinter Woody stand. Ȁhm, Mr Dowd? Darf ich dieses Insekt bitte nach draußen befördern und es freilassen?« Ich hielt die Tasche hoch.
    Mr Dowd sagte: »Ja, sicher, San. Das finde ich sehr nobel von …« Er beendete den Satz nicht, weil ihn der Anblick des Tausendfüßlers ablenkte, der einen Kamikaze-Rückwärtssalto vom Reißverschluss machte, vom Handy des Mädchens abprallte und mit Karacho auf dem Hartholzboden landete.
    Das verursachte emsiges Gewusel. Alle Mädchen sprangen auf die Stühle. Genau so, wie ich es am liebsten getan hätte. Aber alle Jungs feuerten mich mit »Los, San!« und »Mach ihn fertig, Buddha!« an. Einer rief sogar: »Kill den Käfer, San!« Was ziemlich witzig war, weil ihm ungefähr zehn Leute sofort böse Blicke zuwarfen, denen Sätze abzulesen waren wie: Noch nie was von Sans buddhistischer Ehrfurcht vor allem Lebenden gehört? Idiot!
    Ach, wie schön, berühmt zu sein! Meine Fans wollten eine Show, also musste ich ihnen eine präsentieren. Mit dem Tempo und der Geschicklichkeit eines Raubvogels – eines vegetarischen Raubvogels natürlich – schnappte ich mir einen übergroßen Bastelbogen vom Tisch und begann, den kleinen Mistkerl durchs Klassenzimmer zu jagen, bis er unter Mr Dowds Pult verschwand. Gerade als er in Mr Dowds Aktenkoffer Schutz suchen wollte, schob ich den Bogen von hinten unter ihn, worauf mindestens sechzig seiner Beinchen stolperten. Ich hatte ihn! Ich faltete den Bogen wie ein Zelt und Mr Tausendfüßler war mir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
    Natürlich schrie jeder Nerv in meinem Körper: SCHMEISS DAS BIEST WEG! LAUF! LAUUUF! Aber Mr Dowd beobachtete mich. Woody beobachtete mich. Peter beobachtete mich. Ganz vorsichtig versiegelte ich also das Zelt, indem ich mit einer Faust die Ränder zerknüllte. Mit der anderen Hand winkte ich der Klasse übermütig zu und lief aus dem Zimmer in den Flur. Ich gestattete mir, wenige Sekunden gegen die Schließfächer zu sacken und verzweifelt nach Luft zu ringen. Eilmeldung: ICH HIELT EINEN TAUSENDFÜSSLER IN DER HAND! In der einen Minute führte ich ein tiefschürfendes Gespräch mit Woody, bei dem wir uns gegenseitig das Herz ausschütteten, und in der nächsten steckte ich mitten in einer Tierdokumentation. Ich hoffte nur, dass sie nicht wie dieser schreckliche Film endete, wo der Bärenforscher von Grizzlys zerfleischt wird.
    Ich holte noch einmal tief Luft und stürzte dann wie ein Wahnsinniger auf die Treppe zu. Bestimmt konnte man einen Kilometer weit das Klatsch-Klatsch meiner Sandalen unter den Fußsohlen hören, als ich aus dem Schulgebäude rannte. Doch es war nicht laut genug, um die kleinen Knallgeräusche zu übertönen, die der Körper des Tausendfüßlers machte, als er in meiner Papierfalle herumgeschleudert wurde.
    Im Gras vor dem Hinterausgang der Schule blieb ich stehen und schaute auf das Papier. Mir war klar, dass ich hier