Buddha-Boy

könnte – was immer ›alles‹ war – und dass das Geschenk ihre Lieblingsmusik sei. Was sollte ich tun? Ich packte das Geschenk aus und fand einen Satz CDs von Woody Guthrie vor. Meine Mutter hatte im ganzen Haus immer Folkmusik gespielt, deshalb kannte ich viele dieser Songs. Als Dad drei Stunden später nach Hause kam, saß ich am Tisch, weinte und hörte mir Woody Guthrie an.
    Als ich dann im folgenden Jahr Gitarrenunterricht bekam, bat ich meinen Lehrer, mir einige dieser Songs beizubringen. Was dann auch klappte. Ich stellte mir immer vor, dass meine Mutter unheimlich beeindruckt wäre, wenn sie zurückkäme und ich alle ihre Lieblingssongs spielen könnte. Aber ich spiele sie jetzt schon zwei Jahre und sie ist nicht zurückgekommen.«
    Â»Mann! Tut mir leid, Woody.«
    Â»Ja, mir auch. Ich hab sogar … Kann ich dir was richtig Idiotisches erzählen?«
    Â»Nichts, was du mir erzählst, kommt mir idiotisch vor.«
    Â»Also, vor drei Wochen hab ich mich selber beim Spielen der Woody-Guthrie-Songs aufgenommen und die DVD an meine Mutter geschickt. Du hast mich dazu inspiriert, San.«
    Â» Ich? Wie um alles in der Welt habe ich dich inspiriert, so etwas Mutiges zu tun?«
    Â»Ach, komm! Es war an dem Tag, als du Peter bei den Freiwürfen geschlagen hast. Wir waren auf dem Weg zur Suppenküche und du hast was vom Feuer im Haar erzählt. Weißt du noch? ›Alles, was im Augenblick eine Rolle spielt, ist das, was du im Augenblick tust‹? Und obwohl meine Mutter nicht zurückgekommen ist und sich nicht gemeldet hat, beschloss ich, ihr sofort eine Nachricht zu senden. Du hast mir irgendwie gezeigt – ich weiß nicht –, dass ich ihr vergeben kann.«
    Wow, Woody glaubte wirklich an mich. Noch nie hatte jemand zuvor an mich geglaubt, niemand hatte mir diese Macht zugetraut. Gott sei Dank hatte ich ihr nicht geraten, von einer Klippe zu springen, gelben Schnee zu essen oder sonst was in der Art. Und das Komische war, dass ich auch an sie glaubte. Aber mein Glaube war richtig und ihrer falsch. Sie vergab und ich versteckte mich.
    Â»Das ist nicht idiotisch, es ist toll. Du bist toll.«
    Â»Na ja, Peter fand es nicht so toll. Er hat gesagt, dass ich verrückt bin, die Klappe halten soll und mit den Eltern zufrieden sein soll, die ich habe. Vielleicht hat er ja Recht. Vielleicht war es blöd von mir. Aber ich habe das Päckchen trotzdem abgeschickt.«
    Ein Schatten fiel auf uns. Mr Dowd brummte: »Hallo, Miss Long, Mr Lee. Ich bin überglücklich zu sehen, wie gut ihr euch versteht, aber vielleicht könntet ihr wieder so tun, als ob euer Projekt noch am Laufen ist?« Seine Augen glitzerten wie wild. Ȇbrigens hat Mrs Romberger von der Bücherei deine Forschungstalente hoch gelobt, San. Und deine ehrenamtliche Tätigkeit in der Suppenküche auch. Mach weiter so!« Er wandte sich ab, um zwei Schüler beim Zuwerfen und Fangen ihres Projekts, des Modells einer chinesischen Pagode, zu unterbrechen.
    Woody sah mich an. »Forschungstalente? Was erforschst du denn?«
    Â»Lange Geschichte.«
    Sie beugte sich über den Tisch zwischen uns und stützte ihr Kinn auf beiden Händen ab. »Ich würde sie gern hören.«
    Verflixt! Ich musste irgendwas sagen. Aber was? Wie kam ich bloß aus dieser Sache wieder raus?
    Offenbar mit ein wenig Nachhilfe von Mutter Natur. Plötzlich schreckte Woody entsetzt zurück, quietschte und zeigte mit dem Finger auf eine Stelle zu meiner Rechten. Auf dem Arm des Mädchens neben mir war ein Tausendfüßler. Das Mädchen sah Woodys Geste und schaute nach unten. Sie kreischte. Die Schülerin neben ihr kreischte. Das Mädchen riss den Arm hoch, worauf der Tausendfüßler in die Luft flog und ins Haar der Tischnachbarin purzelte. Die fiel nach hinten und ihre Füße knallten gegen den Tisch. Ihr riesiger Buddha aus Pappmaschee flog einen halben Meter hoch und landete mit einem widerlichen Klatsch auf dem Boden.
    Beide Mädchen sahen mich kurz an und die eine sagte: »Ups, tut mir leid, San.«
    Ich erwiderte: »Kein Problem. Der große Meister Lin Chi hat gesagt: ›Wenn du den Buddha triffst, töte den Buddha.‹ Aber das war bestimmt nur eine Metapher.«
    Sie sahen beide etwas verwirrt und gleichzeitig erleichtert aus, zumindest bis Woody sagte: »Oh, mein Gott! Da ist er!«
    Und da war er tatsächlich.