Buddhas kleiner Finger
bemäntelte Leiche in der Ecke machte ich mir, nebenbei gesagt, die wenigsten Sorgen – in Tschekistenquartieren war dies sozusagen ein üblicher Einrichtungsgegenstand.)
Tschapajew schien meine Gedanken zu lesen.
»Wie Sie gewiß schon vermuten«, sagte er, »ist es nicht nur das Köfferchen, das mich zu Ihnen führt. Ich reise noch heute an die Ostfront, wo ich eine Division zu befehligen habe. Ich benötige einen Kommissar. Der vorige … Nun ja, sagen wir, er hat die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Ich war gestern Zeuge Ihres Agitationseinsatzes, und Sie machten keinen üblen Eindruck auf mich. Babajasin ist übrigens auch sehr zufrieden. Ich möchte, daß Sie in den mir anvertrauten Truppenteilen die politische Arbeit übernehmen.«
Mit diesen Worten knöpfte er die Brusttasche seines Hemdes auf und reichte mir ein doppelt gefaltetes Blatt Papier. Ich entfaltete es und las:
An Gen. Ernenzoff. Auf Befehl des Gen. Dsershinski haben Sie sich umgehend der Verfügung des Kommandeurs der Asiatischen Reiterdivision Gen. Tschapajew zwecks Verschärfung der politischen Arbeit zu unterstellen. Babajasin
Darunter prangte der mir bereits bekannte verwaschene lila Stempel. Wer ist bloß dieser Babajasin? dachte ich verwirrt und hob den Blick.
»Wie darf man Sie denn nun wirklich nennen?« fragte Tschapajew augenzwinkernd. »Grigori oder Pjotr?«
»Pjotr«, sagte ich und leckte mir über die ausgetrockneten Lippen. »Grigori ist mein altes literarisches Pseudonym. Das gibt immerzu Verwechslungen, müssen Sie wissen. Manche nennen mich immer noch Grigori, wie sie es von früher gewohnt sind, andere Pjotr.«
Tschapajew nickte. Er nahm Säbel und Mütze vom Flügel.
»Also, Pjotr«, sagte er. »Mag sein, daß es Ihnen ungelegen kommt, aber unser Zug geht bereits heute. Nichts zu machen. Es ist Krieg. Haben Sie in Moskau vorher noch etwas zu erledigen?«
»Nein«, sagte ich.
»In diesem Fall schlage ich vor, daß wir gemeinsam aufbrechen, und zwar unverzüglich. Gleich geht das Regiment der Weber aus Iwanowo auf Transport, da muß ich hin, und Sie möchte ich gern dabeihaben. Gut möglich, daß Sie schon einen Auftritt bekommen. Haben Sie viel Gepäck?«
»Nur das da«, sagte ich und deutete auf das Köfferchen.
»Hervorragend. Ich werde noch heute anweisen, daß man Sie im Stabswaggon unterbringt und versorgt.«
Er begab sich zur Tür.
Ich nahm mein Köfferchen und trat hinter ihm in den Flur. In meinem Kopf herrschte ein heilloses Chaos. Der Mann, der vor mir den Flur durchquerte, machte mir angst. Ich wußte noch nicht, wer er war – seine Manieren ließen überhaupt nicht an einen roten Kommandeur denken, und doch schien er einer zu sein; außerdem waren Stempel und Unterschrift auf dem heutigen Befehl die gleichen wie gestern. Man durfte daraus schließen, daß dieser Mensch genügend Einfluß besaß, an ein und demselben Morgen bei dem obersten Bluthund Dsershinski und jenem obskuren Babajasin vorzusprechen und günstige Order zu erlangen.
An der Garderobe blieb Tschapajew stehen und nahm einen langen, blauen Mantel vom Haken; quer über die Vorderseite waren drei Streifen von rotschillerndem Moiré genäht. Solche Mäntel galten als der letzte Rotgardistenschrei – üblicherweise waren diese Brustbänder allerdings aus gewöhnlichem roten Fahnentuch. Tschapajew zog den Mantel an, setzte die Mütze auf und schnallte sich den Riemen mit der Pistole um, zuletzt hakte er den Säbel ein und wandte sich zu mir um. Ein seltsamer Orden an seiner Brust fiel mir ins Auge: ein Silberstern mit Kügelchen an den Zackenenden. Kein weiteres Symbol, keine Inschrift, nichts. Tschapajew bemerkte meinen Blick.
»Ein Neujahrsschmuck?« fragte ich.
Tschapajew lachte gutmütig auf.
»Nein«, sagte er. »Das ist der Oktoberstern-Orden.«
»Nie gehört.«
»Mit etwas Glück verdienen Sie sich den auch. Sind Sie so weit?«
Ich beschloß, den Moment zu nutzen, da der Tonfall unseres Gesprächs halbwegs inoffiziell schien. »Genosse Tschapajew«, fing ich an, »ich hätte da eine Frage an Sie, die Ihnen merkwürdig vorkommen mag.«
»Ich höre«, sagte er mit höflichem Lächeln und klopfte mit der langen gelben Stulpe seines Handschuhs rhythmisch gegen die Säbelscheide.
»Sagen Sie ehrlich«, ich blickte ihm direkt in die Augen, »wieso haben Sie Klavier gespielt? Und wieso gerade dieses Stück?«
Tschapajew schmunzelte in seinen Bart.
»Was denken Sie«, sagte er. »Als ich in Ihr Zimmer schaute,
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