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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Worte:
    Wir Schmiede sind stark, unser Geist ist der Hummer
Wir schmieden die Schlüssel zum Glück
Der Hammer wiegt schwer, und er fliegt, und er wummert
Die Brust sprengt er frei Stück um Stück, Stück um Stück!
    »Merkwürdig«, sagte ich. »Wieso singen sie vom Schmieden, wenn sie doch Weber sind? Und was haben sie mit dem Hummer am Hut?«
    »Wieso Hummer? Hammer!« sagte Anna.
    »Ach, Hammer? Alles klar. Schmiede und Hammer, das paßt zusammen. Nur daß es eigentlich Weber sind. Weiß der Teufel, was das soll.«
    Auch wenn der Text keinen Sinn ergab – das durch die Winternacht schwebende Lied hatte etwas Berückendes an sich und schien wie aus fernen Zeiten zu stammen. Was vielleicht gar nicht an dem Lied lag, sondern am Zusammenklang der vielen Männerstimmen mit dem Pfeifen des Windes, den schneebedeckten Weiten und den wenigen kleinen Sternen am Himmel. Als der Zug um eine Kurve zog, sah man die lange Kette schwarzer Waggons – darin saßen sie und sangen, und das offenbar in völliger Dunkelheit, was den geheimnisvollen Eindruck noch verstärkte. Einige Zeit hörten wir schweigend zu.
    »Es könnte etwas Skandinavisches sein«, sagte ich dann. »Wissen Sie, es gab da einen Gott mit einem Zauberhammer, den er wie eine Waffe handhabte. Ich glaube, es war in der Älteren Edda. Ja genau, das übrige paßt auch gut! Der reifbedeckte Waggon da – das ist doch Thors Hammer, den er nach dem unsichtbaren Feind geworfen hat! Er fliegt uns hinterher, und keine Macht kann ihn aufhalten!«
    »Sie haben eine lebhafte Phantasie«, bemerkte Anna. »Sagen Sie bloß, der Anblick dieses dreckigen Eisenbahnwagens treibt in Ihnen solche Blüten?«
    »Wo denken Sie hin«, sagte ich. »Ich gebe mir bloß Mühe, ein angenehmer Gesprächspartner zu sein. In Wirklichkeit denke ich an ganz etwas anderes.«
    »Und das wäre?« fragte Tschapajew nach.
    »Etwas an diesem Zug erinnert mich an uns Menschen. Ob wir es wollen oder nicht, immer ziehen wir einen Troß unbeleuchteter, gräßlicher, irgendwann einmal von irgendwem übernommener Waggons hinter uns her. Und all diese Anhängsel, dieses sinnlose Sammelsurium von Hoffnungen, Ansichten und Ängsten nennt sich nun Leben. Und es gibt keine Möglichkeit, diesem Schicksal zu entgehen.«
    »Wer sagt das«, entgegnete Tschapajew. »Eine Möglichkeit gibt es.«
    »Und Sie wissen, welche?« fragte ich.
    »Natürlich.«
    »Vielleicht sind Sie so freundlich, sie zu verraten?«
    »Nichts leichter als das«, sagte Tschapajew und schnipste mit den Fingern.
    Es schien, als hätte der Baschkire nur auf dieses Zeichen gewartet. Er stellte die Laterne auf dem Fußboden ab, tauchte geschickt unter dem Geländer weg, beugte sich über diverse Kuppelmechanismen, die in der Dunkelheit nicht zu erkennen waren, und begann wie wild zu hantieren. Man hörte ein leises Klirren, worauf der Baschkire so flink auf die Plattform zurückgeklettert kam, wie er zuvor von ihr verschwunden war.
    Die schwarze Waggonwand vor uns begann sich langsam von uns zu entfernen.
    Ich sah Tschapajew an. Ungerührt hielt er meinem Blick stand.
    »Es wird langsam kalt«, sagte er, so als sei nichts geschehen.
    »Wir sollten in den Salon zurückkehren.«
    »Ich komme gleich nach«, erwiderte ich.
    Allein auf der Plattform zurückgeblieben, blickte ich ein Weilchen schweigend vor mich hin. Noch war der Gesang der Weber zu vernehmen, doch von Sekunde zu Sekunde blieb die Wagenkette weiter zurück; sie erschien mir wie der eben abgeworfene Schwanz einer flüchtenden Eidechse. Es war ein großartiger Anblick. Ach, hätte ich doch ebenso einfach, wie Tschapajew sich gerade von seinen Leuten getrennt hatte, diese ganze düstere Bande getürkter Ichs, die meine Seele schon so viele Jahre ruinierte, hinter mir lassen können!
    Gleich darauf begann auch ich zu frieren. Ich ging zurück in den Waggon, verriegelte die Tür hinter mir und tastete mich vorwärts. Als ich im Stabswaggon anlangte, fühlte ich eine solche Müdigkeit, daß ich, ohne den Schnee von der Jacke zu schütteln, geradewegs in mein Coupé ging und aufs Bett fiel.
    Aus dem Salon, wo Tschapajew und Anna saßen, drangen Rufe und Gelächter. Ein Champagnerkorken knallte.
    »Pjotr!« rief Tschapajew. »Nicht schlafen! Zu uns!«
    Nach dem eisigen Wind, der mich auf der Plattform durchgeblasen hatte, tat mir die Wärme des Abteils außerordentlich wohl. Allmählich bemächtigte sich meiner sogar die Vorstellung, ich läge in einer Badewanne und nähme das heiße Bad, von

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