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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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dem ich schon tagelang träumte. Als die Vorstellung sich anschickte, Wirklichkeit zu werden, begriff ich, daß ich am Einschlafen war. Auch daß das Grammophon anstelle von Schaljapin plötzlich die Mozart-Fuge spielte, mit welcher der Tag begonnen hatte, war ein Anzeichen dafür. Ich ahnte noch, daß ich auf keinen Fall einschlafen durfte, konnte jedoch nichts mehr dagegen tun, ergab mich und stürzte im selben Moment kopfüber ins Leere – das heißt in jenen tiefen Schacht zwischen den Mollakkorden, der mich am Morgen so frappiert hatte.

4
    »He! Nicht schlafen!«
    Jemand rüttelte mich sacht an der Schulter. Ich hob den Kopf, schlug die Augen auf und sah in ein mir vollkommen fremdes Gesicht – rund, füllig und von einem sorgfältig gestutzten Bart umkränzt. Dazwischen ein freundliches Lächeln, das in mir jedoch nicht den Wunsch weckte zurückzulachen. Und ich wußte sogleich, warum. Es lag an dieser Kombination von gepflegtem Bartkranz und kahlrasiertem Schädel. Der Herr, der sich da über mich beugte, gemahnte an einen jener Spekulanten, die gleich nach Ausbruch des Krieges scharenweise in Petersburg eingefallen waren und Handel trieben mit allem und jedem. In der Regel stammten sie aus der Ukraine und hatten zwei ausgeprägte Merkmale gemein: eine schier unerschöpfliche Vitalität und ein gleichbleibendes Interesse an den neuesten okkulten Strömungen in der Hauptstadt.
    »Wladimir Wolodin«, stellte der Bärtige sich vor. »Man kann auch einfach Wolodin zu mir sagen. Da Sie es vorzogen, wieder mal Ihr Gedächtnis zu verlieren, kann es nicht schaden, neu Bekanntschaft zu schließen.«
    »Pjotr«, sagte ich.
    »Vermeiden Sie heftige Bewegungen, Pjotr«, sagte Wolodin. »Als Sie noch schliefen, hat man Ihnen vier Kubik Taurepam gespritzt, der Morgen wird also etwas trübe für Sie werden. Wundern Sie sich nicht, wenn Dinge oder Personen um Sie her einen widerwärtigen und deprimierenden Eindruck auf Sie machen.«
    »Oh, mein Lieber«, sagte ich, »darüber wundere ich mich schon lange nicht mehr.«
    »Nein«, sagte er, »ich meine etwas anderes. Es kann passieren, daß Ihnen die Situation, in der Sie sich befinden, auf einmal unerträglich ekelhaft vorkommt. Auf unbeschreibliche, unmenschliche Art grotesk und sinnlos. Vollkommen lebensfremd.«
    »Ja, und?«
    »Achten Sie nicht darauf. Das kommt von der Spritze.«
    »Ich werd's versuchen.«
    »Prima.«
    Ich bemerkte plötzlich, daß dieser Wolodin splitternackt war. Außerdem war er naß und kauerte auf einem weißen Kachelboden, auf den das Wasser von seinem Körper hinuntertroff. Der Anblick war für sich genommen schockierend, am schwersten daran auszuhalten war jedoch die vollkommen entspannte Unzüchtigkeit seiner Pose, die unergründliche Gelassenheit, mit der er, einem Affen gleich, den langen, sehnigen Arm auf dem Kachelboden aufstützte. Diese Hemmungslosigkeit gab zu verstehen: Auf dieser Welt ist es für ausgewachsene, behaarte Männer das Normalste und Natürlichste, nackt auf dem Boden zu hocken, und wer anders darüber denkt, wird es im Leben nicht leicht haben.
    Was die Spritze anging, so schien der Mann recht zu haben. Mit meiner Wahrnehmung ging in der Tat etwas Seltsames vor sich. Eben hatte Wolodin sekundenlang für sich allein existiert, ohne Hintergrund, wie auf einem Paßfoto. Erst nachdem ich sein Gesicht und seine Gestalt ausgiebig und in allen Einzelheiten betrachtet hatte, begann ich darüber nachzudenken, wo dies alles geschah. Und erst nachdem ich eine Weile darüber nachgedacht hatte, erstand dieser Ort vor meinen Augen. Jedenfalls hatte ich so das Gefühl.
    Wir befanden uns in einem großen, durchgängig weißgekachelten Raum, in dem fünf gußeiserne Badewannen standen. Ich lag in der hintersten; das Wasser darin war, wie ich gerade mit Unbehagen feststellte, recht kalt. Wolodin schenkte mir ein letztes, aufmunterndes Lächeln, drehte sich auf der Stelle und hüpfte mit einer abstoßenden Gelenkigkeit – direkt aus der Hocke und fast ohne zu spritzen – in die Nachbarwanne.
    Außer Wolodin lagen noch zwei andere in den Wannen: ein langhaariger Blonder mit blauen Augen und Fusselbart, der aussah wie ein alter slawischer Recke, und ein dunkelhaariger Junge mit blassem, etwas femininem Gesicht und übermäßig ausgebildeter Muskulatur. Beide blickten mich herausfordernd an.
    »Sie scheinen uns wirklich nicht mehr zu kennen«, sagte der bärtige Blonde nach ein paar Sekunden der Stille. »Semjon Serdjuk ist mein

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