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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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man einen Sonnenuntergang mit dem Kücheneimer abzuschöpfen.
    Als das Abendessen beendet war, räumte der Baschkire die Teller vom Tisch und brachte den Kaffee. Tschapajew lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und rauchte eine Zigarre an. Sein Gesicht bekam einen sonnigen und etwas schläfrigen Ausdruck; lächelnd blickte er zu mir herüber.
    »Sie sehen bedrückt aus, Pjotr«, sagte er, »sogar ein bißchen verstört, mit Verlaub. Dabei muß ein Kommissar – an sich glauben, verstehen Sie? Er muß, wie soll ich sagen, er muß zupackend sein, rücksichtslos und seiner selbst vollkommen sicher. Jederzeit.«
    »Meiner selbst bin ich durchaus sicher«, sagte ich. »Nicht ganz sicher bin ich mir nur, was Sie betrifft.«
    »Nanu? Was gibt Ihnen Rätsel auf?«
    »Darf ich offen sein?«
    »Aber selbstverständlich. Anna und ich bitten geradezu darum.«
    »Ich kann nicht recht glauben, daß Sie tatsächlich ein roter Kommandeur sind.«
    Tschapajew hob die linke Braue.
    »Ach ja?« fragte er, und sein Erstaunen schien echt. »Wie denn das?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Es kommt mir alles wie eine Maskerade vor.«
    »Heißt das, Sie wollen mir meine Sympathien für das Proletariat nicht abnehmen?«
    »Doch, doch, das schon. Ich selbst habe, als ich heute auf der Tribüne stand, etwas Ähnliches gefühlt. Und trotzdem … «
    Ich wußte plötzlich nicht mehr, was ich eigentlich sagen wollte. Eine peinliche Stille hing im Raum – dezent durchbrochen von dem Löffelchen, mit dem Anna in ihrem Kaffee rührte.
    »Wie hätte denn Ihrer Meinung nach ein richtiger roter Kommandeur auszusehen?« fragte Tschapajew und schüttelte sich die Zigarrenasche vom Jackettschoß.
    »Wie Furmanow«, antwortete ich.
    »Na hören Sie, Pjotr, mit dem Namen kommen Sie mir heute schon zum zweitenmal. Wer ist denn dieser Furmanow?«
    »Der Herr mit dem klebrigen Blick«, erläuterte ich. »Der heute zu den Webern gesprochen hat, nach mir.«
    Anna klatschte unversehens in die Hände.
    »Genau«, sagte sie, »die Weber haben wir ganz vergessen, Wassili Iwanowitsch. Wir hätten ihnen längst einen Besuch abstatten müssen.«
    Tschapajew nickte.
    »Jaja«, sagte er, »Sie haben vollkommen recht, Anna. Ich wollte es vorhin selbst vorschlagen, aber dann hat mich Pjotr so durcheinandergebracht, daß es mir wieder entfallen ist.«
    Er wandte sich an mich.
    »Wir sollten auf dieses Thema unbedingt noch einmal zurückkommen. Aber einstweilen könnten Sie uns doch Gesellschaft leisten, oder?«
    »Mit Vergnügen.«
    »Also vorwärts«, sagte Tschapajew und erhob sich vom Tisch.
    Wir verließen den Stabswaggon entgegen der Fahrtrichtung. Das Ganze wurde für mich immer sonderbarer. Mehrere Waggons, durch die wir kamen, waren dunkel und dem Anschein nach völlig leer. Nirgendwo Licht, kein einziger Laut aus den Abteilen. Daß hinter den polierten Nußbaumpaneelen, die die Glut von Tschapajews Zigarre widerspiegelten, rote Regimenter kampierten, konnte man sich schwer vorstellen. Doch ich wollte darüber nicht nachsinnen.
    Einer der Waggons endete nicht wie die anderen in einem geschlossenen Übergang zum nächsten, sondern mit einer einfachen Schlußtür, hinter deren Scheiben man die schwarze Winternacht davonjagen sah. Der Baschkire machte sich einen Moment lang am Schloß zu schaffen, dann zog er die Tür auf; das donnernde Gepolter der Räder und ein Wirbel von Schneeflocken, die wie Nadeln pikten, drangen in den Gang herein. Hinter der Tür kam eine kleine, überdachte Plattform mit Geländer zum Vorschein, so wie man sie von den Straßenbahnen her kennt, und noch dahinter hob sich der dunkle, massige Schatten des nächsten Wagens ab; eine Brücke gab es nicht, so daß unklar war, wie Tschapajew sich die Visite bei seinen neuen Heerscharen vorgestellt hatte. Ich trat als letzter auf die kleine Plattform hinaus. Tschapajew stützte sich auf das Geländer, tat einen tiefen Zug aus seiner Zigarre, und der Fahrtwind trug ein paar glutrote Funken in die Nacht.
    »Sie singen«, sagte Anna, »hört ihr?«
    Die Frau hob die Hand, wie um ihre Haare im Wind zusammenzuhalten, und ließ sie im nächsten Moment wieder sinken – ihr Haarschnitt machte die Geste überflüssig. Noch vor kurzem mußte sie eine ganz andere Frisur gehabt haben.
    »Hören Sie das?« fragte sie noch einmal und drehte sich zu mir um.
    Tatsächlich drang durch das Rattern der Wagenräder ein recht manierlicher, harmonischer Gesang herüber. Ich horchte genauer hin und verstand auch die

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