Buddhas kleiner Finger
Professor deutete auf den Sessel, »dazu gibt es eine kleine Spritze, und dann können wir zugucken, wie die Symbole hochkommen – in Scha-a-a-ren! Entschlüsselung und Therapie nehmen wir anschließend in die Hand. Einleuchtend?«
»Mehr oder weniger«, sagte ich. »Und wie funktioniert das mit der Entschlüsselung?«
»Das werden Sie erleben, wenn es soweit ist, Pjotr. Die Sitzungen machen wir immer freitags, so daß Sie in drei … nein, in vier Wochen an der Reihe sein werden. Ehrlich gesagt, bin ich in Ihrem Fall besonders gespannt – die Arbeit mit Ihnen macht Spaß, großen Spaß sogar. Obwohl ich das natürlich von Ihnen allen behaupten darf, meine lieben Freunde.«
Professor Kanaschnikow lächelte und ließ dabei eine Woge inniger, zügelloser Liebe durch den Raum strömen, sodann verbeugte er sich und legte die Hände ineinander.
»Machen wir uns nun an die Übungen«, sagte er.
»Was denn für Übungen?« entfuhr es mir.
»Na, es ist doch schon halb zwei«, sagte der Professor auf die Uhr schauend. »Zeit fürs heilästhetische Praktikum.«
Wenn man absah von den hydropsychologischen Prozeduren, die mich aus dem Schlaf geholt hatten, war dieses heilästhetische Praktikum das Lästigste, was mir in diesen Mauern bis dahin widerfahren war – woran auch die Spritze ihren Anteil haben mochte. Das Praktikum fand in dem Zimmer statt, das an unseren Schlafsaal angrenzte. Es war groß und schummrig; auf einem langen Tisch in der Ecke lagen lauter bunte Knetebrocken, tönerne Pferdemißgeburten von der Art, wie künstlerisch begabte Kleinkinder sie kneten, Schiffsmodelle aus Pappe, zerbrochene Puppen und Bälle. Aus der Mitte des Tisches ragte eine große Aristoteles-Büste aus Gips – und ihr gegenüber, auf vier mit braunem Wachstuch bezogenen Stühlen, Zeichenbretter auf den Knien, saßen wir. Die ästhetische Therapie bestand darin, daß wir mit Bleistiften, die an den Stühlen festgebunden und noch dazu in schwarzen Weichgummi gewickelt waren, die Büste abzuzeichnen hatten.
Wolodin und Serdjuk steckten immer noch in ihren gestreiften Schlafanzügen, Maria hatte das Oberteil ausgezogen und trug statt dessen ein Hemdchen mit weitem, fast bis zum Nabel hinunterreichendem Ausschnitt. Alle waren sie dieses Ritual offensichtlich gewohnt und führten ihre Stifte geduldig über das Papier. Sicherheitshalber machte auch ich eine schnelle, flüchtige Skizze, bevor ich das Zeichenbrett beiseite legte und mich umschaute.
Die Spritze tat wohl immer noch ihre Wirkung, denn mir geschah annähernd dasselbe wie zuvor in der Wanne. Ich war einfach nicht fähig, die Wirklichkeit im ganzen aufzunehmen. Die einzelnen Elemente der Umgebung nahmen immer in dem Moment Gestalt an, da ich hinschaute, so daß ich allmählich den schwindelerregenden Eindruck gewann, daß mein Blick es war, der sie erschuf.
Auf diese Weise entdeckte ich, daß die Wände des Zimmers mit kleinformatigen Zeichnungen behängt waren. Einiges davon war sehenswert.
Etliche stammten zweifellos von Maria. Es waren die ungelenksten von allen, wahre Kinderkritzeleien, auf denen das Flugzeugthema in immer neuen Varianten auftauchte, jedesmal mit einem mächtigen phallischen Auswuchs bestückt. Manchmal stand das Flugzeug auf dem Schwanz, wodurch die Darstellung christliche Obertöne gewann, die, nebenbei gesagt, recht blasphemisch ausfielen. Im großen ganzen fand ich Marias Zeichnungen nicht weiter fesselnd.
Dafür weckte ein anderer Zyklus mein außerordentliches Interesse, und dies nicht nur, weil der Autor sichtlich über künstlerische Talente verfügte. Die Zeichnungen waren auf obskure Weise japanisch inspiriert. Die meisten von ihnen, sieben oder acht, schienen eine Abbildung zu reproduzieren, die man irgendwo gesehen zu haben meinte: einen Samurai mit zwei Schwertern und unzüchtig entblößter Scham, der mit einem Stein am Hals vor einem Abgrund steht. Zwei, drei andere Zeichnungen stellten ein Reiterlager dar, mit Bergen am Horizont – letztere erstaunlich gekonnt, im traditionellen japanischen Stil ausgeführt. Die Pferde waren an Bäumen angebunden, unweit von ihnen hockten die abgesessenen Reiter in weiten, bunten Gewändern im Gras und tranken aus irgendwelchen Näpfen. Den stärksten Eindruck aber machte auf mich eine erotische Zeichnung: ein Mann mit einem kleinen blauen Käppchen und entrücktem Gesichtsausdruck sowie eine Frau (breite Wangenknochen, ein slawisches Gesicht, das einem nicht geheuer vorkam) in völliger
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