Buddhas kleiner Finger
Hingabe.
»Erlauben Sie eine Frage, meine Herren«, konnte ich nicht an mich halten, »wem gehören diese japanischen Blätter dort?«
»Sag, Semjon, wem gehören deine Zeichnungen? Bestimmt der Klinik?« fragte Wolodin vorlaut.
»Die sind von Ihnen, Herr Serdjuk?«
»Von mir«, erwiderte Serdjuk und schaute mich mit seinen tiefblauen Augen von unten her an.
»Großartig«, sagte ich. »Wenn auch ein bißchen düster.«
Darauf sagte er nichts.
Die dritte Serie Zeichnungen – die, wie ich nun vermuten durfte, von Wolodin stammte – war sehr unkonkret und impressionistisch in der Ausführung. Auch hier gab es ein durchgängiges Thema: drei dunkle, verschwommene Gestalten im Kreis um ein loderndes Feuer und eine senkrecht auf sie herniederfallende Lichtsäule. Die Komposition erinnerte an das berühmte Bild mit den drei Jägern am Lagerfeuer, nur daß man annehmen mußte, in dem Feuer wäre gerade eine Mine explodiert.
Schließlich schaute ich zur gegenüberliegenden Wand – und zuckte zusammen.
Dies war wohl nun das heftigste Déjà-vu in meinem Leben. Schon beim ersten Blick auf den zwei mal zwei Meter großen Karton voller winziger bunter Figürchen fühlte ich eine innige Verbindung zu diesem sonderbaren Objekt. Ich erhob mich vom Stuhl und trat näher.
Besagter Blick fiel auf den oberen Teil des Kartons, wo eine Art Schlachtplan zu sehen war, wie man ihn in Geschichtslehrbüchern findet. Im Zentrum des Plans befand sich ein schraffiertes blaues Oval, worin in Großbuchstaben das Wort SCHIZOPHRENIE stand. Drei dicke, rote Pfeile liefen von oben darauf zu – einer auf direktem Wege, die anderen beiden im Bogen, um sich in die Seiten des Ovals zu bohren. »Insulin«, »Aminasin« und »Sulfasin« stand an den Pfeilen. Von dem Oval senkrecht nach unten ging ein gestrichelter blauer Pfeil, darunter stand: »Krankheit geht zurück«.
Nachdem ich diesen Plan studiert hatte, wechselte ich zur unteren Hälfte des Bogens. Die zahlreichen hier abgebildeten Personen, die unendlich vielen Details, auch die Verworrenheit des Ganzen ließen an eine Illustration zu Tolstois Roman »Krieg und Frieden« denken – sämtliche Romanfiguren und die ganze Handlung auf einmal wiedergebend. Gleichzeitig wirkte die Manier der Darstellung kindlich, denn genau wie auf Kinderzeichnungen waren sämtliche Regeln der Perspektive und des Sinns außer Kraft gesetzt. Die rechte Seite des Bildes zeigte eine große Stadt. An der grellgelben Kuppel der Isaak-Kathedrale konnte ich erkennen, daß Petersburg gemeint war. Durch seine Straßen, die stellenweise bis ins kleinste gezeichnet, dann wieder in der Art von Stadtplänen nur mit einfachen Linien markiert waren, verliefen Pfeile und gestrichelte Linien, wie es sie auch auf dem Schema darüber gab – man konnte sich vorstellen, daß sie zusammen die Lebensbahn eines Menschen nachzeichneten. Von Petersburg führte eine punktierte Linie nach Moskau, das sich gleich nebenan befand. In Moskau waren nur zwei Örtlichkeiten hervorgehoben: der Twerskoi-Boulevard und der Jaroslawler Bahnhof. Vom Bahnhof weg kroch ein doppelfädiges Spinnennetz von Eisenbahnlinien in alle Richtungen auseinander, wurde, der Mitte des Blattes näher rückend, immer breiter und größer, bis es sich in eine Zeichnung verwandelte, die einigermaßen den Gesetzen der Perspektive folgte. Schienen liefen auf einen Horizont von goldgelben Weizenfeldern zu; auf den Schienen stand, in Qualm und Wasserdampf gehüllt, ein Zug.
Der Zug war in aller Ausführlichkeit gezeichnet. Die Lokomotive schien von etlichen Granattreffern aufgerissen; aus den Löchern in ihrem tonnenförmigen Leib wälzten sich dicke, schwarze Rauchwolken, und aus der Kabine hing der tote Lokomotivführer. Auf dem ersten Waggon hinter der Lok sah man einen Schützenpanzerwagen stehen (muß ich betonen, daß mir das Herz bis zum Hals schlug?), den Gewehrturm auf das gelbe Weizenmeer gerichtet. Die Turmluke stand offen, Annas kurzgeschorener Kopf schaute hervor. Der gerippte Lafettenschwanz spuckte Feuer auf das Schlachtfeld, in die Richtung, die Tschapajews Säbel wies; denn natürlich war er es, der neben dem Panzerauto auf dem Güterwagen stand. Tschapajew trug eine hohe Pelzmütze und einen zottigen schwarzen Mantel, zugeknöpft bis zum Hals und bis zu den Sohlen reichend; seine Pose war wohl eine Spur zu theatralisch.
Dem Zug auf dem Bild fehlten wenige Meter bis zur Bahnstation, die nur zum kleineren Teil auf dem Karton Platz gefunden hatte; das
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