Buddhas kleiner Finger
Bahnsteiggeländer und das Schild mit der Aufschrift »Losowaja« waren gerade noch zu sehen.
Ich suchte auf der Zeichnung den Feind zu entdecken, den Anna auf ihrem Turm im Visier hatte, sah aber nur eine Anzahl flüchtig hingeworfener, fast bis zu den Schultern im hohen Weizen versteckter Silhouetten. Man gewann den Eindruck, als hätte der Zeichner keine genaue Vorstellung gehabt, gegen wen die Kampfhandlungen gerichtet waren und was sie bezweckten. Was nun diesen Zeichner betraf, so blieben mir leider wenig Zweifel, um wen es sich dabei handelte.
DIE SCHLACHT BEI
LOSOWAJA
war mit großen Buchstaben unter die Zeichnung gemalt. Daneben stand, von anderer Hand geschrieben:
Tschapajew der Trapper – Petka in der Klapper
Mit einem entschlossenen Ruck drehte ich mich zu den anderen um.
»Meine Herren, finden Sie nicht, daß das zu weit geht? Ist das die feine Art, die anständige Leute voneinander erwarten dürfen? Oder erwarten Sie von mir, daß ich Gleiches mit Gleichem vergelte? Na? Würde Ihnen das gefallen?«
Wolodin und Serdjuk guckten zur Seite, Maria tat so, als hätte er nichts gehört. Eine Zeitlang starrte ich die drei an und versuchte zu ergründen, wer von ihnen diese Geschmacklosigkeit begangen haben konnte, doch keiner gab sich eine Blöße.
Ehrlich gesagt, mich ritzte die Sache nicht allzu sehr, und meine Empörung war zum größeren Teil gespielt. Viel mehr nahm mich die Zeichnung selbst gefangen; ich hatte sofort gespürt, daß etwas darauf nicht stimmte. Ich wandte mich ihr wieder zu und suchte herauszubekommen, was es war. Es schien irgendwo in der Gegend zwischen dem Schlachtplan oben und dem Zug unten zu liegen, da, wo der Himmel sein sollte – ein größeres Stück Kartonfläche war leer gelassen, der Sog eines Vakuums ging von ihm aus. Ich trat zum Tisch und wühlte aus dem Plunder, der sich dort türmte, den Stummel eines Rötelstiftes und ein fast neues Stück Zeichenkohle hervor.
Die nächste halbe Stunde war ich damit beschäftigt, den Himmel über dem Weizenfeld mit schwarzen Klecksen detonierender Schrapnells zu füllen. Ich zeichnete sie alle gleich – ein kohlschwarz ausgemaltes Wölkchen und nach allen Seiten fliegende Splitter, von denen jeder eine lange Rötelspur hinter sich herzog.
Das Ergebnis kam einem berühmten Gemälde von van Gogh nahe (ich hatte vergessen, wie es hieß), wo über einem Weizenfeld unzählige schwarze Krähen schwärmten, jede von ihnen ein dickes, fettes »V«. Ich dachte wieder einmal daran, wie ausweglos doch das Schicksal des Künstlers in dieser Welt war. Dieser Gedanke, der mir immer eine bittere Befriedigung bereitet hatte, erschien auf einmal unerträglich falsch. Nicht nur, weil er so banal war, nein, es steckte auch eine Art korporative Unredlichkeit darin: Alle Kunstschaffenden sprachen ihn aus, wo sie gingen und standen, und erklärten sich damit einer bestimmten existentiellen Kaste zugehörig. Warum nur? Bot denn das Schicksal einer Maschinengewehrschützin oder eines Sanitäters eher einen Ausweg? War in ihnen weniger Pein, weniger Absurdität? Und überhaupt, hat die unermeßliche existentielle Tragödie des Menschen irgend etwas damit zu tun, zu welchen Verrichtungen er im Laufe seines Lebens genötigt wird?
Ich drehte mich zu meinen Kollegen um. Serdjuk und Maria waren ganz in Aristoteles' Büste vertieft (Maria hatte vor Anspannung sogar die Zungenspitze zwischen die Lippen geschoben), während Wolodin gespannt verfolgte, wie sich die Zeichnung auf dem großen Karton veränderte. Als er spürte, daß ich ihn ansah, erschien ein forschendes Lächeln auf seinem Gesicht.
»Wolodin«, fing ich an, »darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
»Aber bitte.«
»Was machen Sie beruflich?«
»Ich bin Unternehmer«, sagte Wolodin. »Ein neuer Russe, wie man heute so sagt. Jedenfalls war ich das. Warum fragen Sie?«
»Ich hatte eben so einen Gedanken … Es heißt immer: ein tragisches Künstlerschicksal, ein tragisches Künstlerschicksal. Wieso behauptet man das ausgerechnet von den Künstlern? Das ist irgendwie nicht ehrlich. Verstehen Sie, Künstler sind auffällige Persönlichkeiten, und wenn ihnen etwas zustößt, wird das bekannt, und alle schauen hin. Wer spricht dagegen von … Na gut, von Unternehmern hört man manchmal noch was. Aber sagen wir, von einem Lokführer? Selbst wenn sein Leben eine einzige Tragödie ist?«
»Sie gehen an die Sache von der falschen Seite heran, Pjotr«, sagte
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