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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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dem kleinen Tisch gab es noch zwei Stuhlsessel, ein Waschbecken an der Wand und eine Lampe mit Schirm. Woran es am allerwenigsten erinnerte, war das Coupé jenes durch die Winternacht flitzenden Zuges, in dem ich am Abend eingeschlafen war.
    Ich stützte mich auf den Ellbogen. Die Bewegung mußte Anna sehr überrascht haben – sie ließ das Buch auf den Boden fallen und starrte mich verwirrt an.
    »Wo bin ich?« fragte ich und setzte mich im Bett auf.
    »Um Himmels willen, bleiben Sie liegen!« sagte sie und beugte sich zu mir herüber. »Alles ist gut. Sie sind in Sicherheit.«
    Der sanfte Druck ihrer Hände beförderte mich wieder in die Rückenlage.
    »Aber vielleicht darf ich erfahren, wo ich hier liege? Und wieso draußen Sommer ist?«
    »Ja«, sagte sie und kehrte zu ihrem Stuhl zurück, »es ist Sommer. Sie können sich an gar nichts erinnern?«
    »Im Gegenteil, ich erinnere mich bestens. Ich verstehe bloß nicht, wieso ich eben noch Zug gefahren bin und auf einmal in diesem Zimmer wach werde.«
    »Sie haben sehr oft im Fieber geredet«, sagte sie, »sind aber kein einziges Mal zu Bewußtsein gekommen. Die meiste Zeit lagen Sie im Koma.«
    »Im Koma? Aber wir haben doch Champagner getrunken, Schaljapin hat gesungen. Oder die Weber. Und dann dieser Herr, Genosse, also Tschapajew. Tschapajew hat einfach so die Wagen abgekoppelt.«
    Bestimmt eine Minute lang sah Anna mir ungläubig in die Augen.
    »Das ist ja seltsam«, sagte sie schließlich.
    »Was ist seltsam?«
    »Daß Sie sich gerade daran erinnern. Und dann?«
    »Dann?«
    »Ja, was danach kam. Zum Beispiel die Schlacht bei Losowaja – an die erinnern Sie sich nicht?«
    »Nein«, sagte ich.
    »Und noch davor?«
    »Was war denn noch davor?«
    »Na ja. Bei Losowaja haben Sie doch schon eine Schwadron befehligt.«
    »Eine Schwadron.«
    »Sie haben sich da sehr verdient gemacht, Pjotr. Wären Sie mit Ihrer Schwadron nicht von der linken Flanke gekommen, es hätte alle erwischt.«
    »Der Wievielte ist heute?«
    »Der dritte Juni«, sagte sie. »Ich wußte ja, daß bei Kopfverletzungen so etwas vorkommt, nur … Wenn Ihnen das Gedächtnis total abhanden gekommen wäre, könnte man das verstehen, aber diese merkwürdige Selektion. Erstaunlich. Im übrigen bin ich kein Mediziner. Vielleicht ist das auch ganz normal so.«
    Ich nahm die Hände zum Kopf und erschrak – mir war, als legten sich die Handflächen auf eine borstige Kugel. Ich war kahlgeschoren wie ein Typhuskranker. Und da war noch etwas Seltsames – ein unbehaarter, buckliger Streifen auf der Kopfhaut. Ich fuhr mit den Fingern darüber hin und erkannte, daß es eine lange, quer über den ganzen Schädel laufende Narbe war. Es fühlte sich an, als hätte man mir mit Gummiarabikum ein Stück Lederriemen auf den Kopf geklebt.
    »Ein Schrapnell«, sagte Anna. »Die Narbe macht Eindruck, aber es war halb so schlimm. Nur ein Streifschuß. Der Schädelknochen ist nicht einmal angeritzt. Aber die Quetschung scheint ordentlich gewesen zu sein.«
    »Wann ist das passiert?«
    »Am zweiten April.«
    »Soll das heißen, ich war seitdem nicht bei Bewußtsein?«
    »Ein paarmal schon, aber buchstäblich nur für Augenblicke.«
    Ich schloß die Augen, und eine Weile kramte ich im Gedächtnis nach irgend etwas, was mit dem von Anna Gesagten zu tun haben konnte. Doch die Schwärze, in die ich blickte, war bodenlos. Hinter den Lidern flammten ein paar helle Streifen und Flecken, sonst war da nichts.
    »Ich kann mich an nichts erinnern«, sagte ich und betastete noch einmal meinen Kopf. »Absolut nichts. Nur ein Traum ist mir gewärtig, der immer wieder hochkommt – irgendwo in Petersburg, in einem großen, düsteren Raum, haut mir jemand eine Aristotelesbüste über den Schädel, und jedesmal geht sie dabei zu Bruch, und dann fängt alles wieder von vorne an. Düster, düster. Jetzt ist mir natürlich klar, wie das kommt.«
    »Sie scheinen ja erbauliche Träume zu haben«, sagte Anna. »Gestern haben Sie den halben Tag lang von irgendeiner Maria phantasiert, die Ärmste hat einen Schuß abbekommen. Leider eine ziemlich konfuse Geschichte – ich konnte nicht begreifen, in welchem Verhältnis dieses junge Ding zu Ihnen steht. Vielleicht eine Kriegsbekanntschaft?«
    »Eine Maria hab ich nie gekannt. Ach, doch, natürlich, aber das war ein Alptraum.«
    »Beruhigen Sie sich«, sagte Anna, »ich bin bestimmt nicht eifersüchtig auf sie.«
    »Wie schade«, erwiderte ich, setzte mich auf und ließ die Beine über den Bettrand

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