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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Maschinengewehr Attacke zu reiten. Doch weil Sie es sind, erhebe ich mein Glas auf die Zunft der MG-Schützen.«
    Wir stießen an.
    »Sagen Sie, Anna«, fragte ich als nächstes, »was ist das für eine Sorte Offiziere da am Nachbartisch? Wer hat überhaupt in dieser Stadt das Sagen?«
    »Überhaupt«, sagte Anna, »ist die Stadt von den Roten besetzt, aber die Weißen sind auch noch da. Man könnte es genausogut umgekehrt sagen. Deshalb ist eine neutrale Kleiderordnung, so wie unsere jetzt, in jedem Fall geraten.«
    »Und wo steht unser Regiment?« fragte ich.
    »Sie meinen unsere Division. Die ist aufgerieben worden. Wir haben nur noch ganz wenig Leute – eine drittel Schwadron, wenn es hochkommt. Aber weil größere feindliche Truppen nicht in der Nähe stehen, sind wir in relativer Sicherheit. Wie hinter den sieben Bergen. Man geht die Straße entlang, trifft den Feind von gestern und denkt: Ist das, weswegen wir einander noch vor Tagen umbringen wollten, denn überhaupt real?«
    »Ich kann Sie gut verstehen«, sagte ich. »Im Krieg wird einem das Herz hart, doch kaum sieht man den Flieder blühen, schon meint man, das Pfeifen der Granaten, das wilde Gebrüll der Reiter, der Pulverrauch mit dem süßlichen Beigeschmack von Blut – dies alles sei nicht real, nur eine Vorspiegelung, ein Traum.«
    »So ist es. Fragt sich nur, wie real der blühende Flieder ist. Könnte genausogut ein Traum sein.«
    Mir lag ein Aber auf der Zunge, doch ich mochte das Thema nicht strapazieren.
    »Wie ist eigentlich die Lage an der Front? Ich meine, so im allgemeinen.«
    »Offen gestanden, ich weiß es nicht. Ich bin nicht unterrichtet, wie es neuerdings so schön heißt. Es gibt hier keine Zeitungen, und die Gerüchteküche brodelt. Und außerdem … wissen Sie, ich habe das Ganze satt. Immerzu werden irgendwelche Städte mit unaussprechlichen Namen verloren und wieder eingenommen, Buguruslan und Bugulma und, wie hieß das gleich, Belebej. Wo das alles liegt und wer es einnimmt und wieder verliert, ist unklar und vor allem auch nicht von Interesse. Der Krieg geht weiter, das ist klar, aber von ihm zu reden ist eine Art mauve genre . Müdigkeit liegt in der Luft, würde ich sagen. Der Enthusiasmus ist flötengegangen.«
    Ich hüllte mich in Schweigen und dachte über ihre Worte nach. Draußen wieherte irgendwo ein Pferd, gleich darauf war der langgezogene Ruf des Fuhrmanns zu hören. Einer der bei den Offiziere am Nebentisch hatte mit der Nadel endlich die Vene getroffen. Mehrere Versuche in den letzten fünf Minuten waren fehlgeschlagen – weit zurückgelehnt, um die unter dem Tisch verborgenen Arme zu sehen, balancierte er seinen Stuhl auf den zwei hinteren Beinen, so daß ich dachte, er müßte gleich umkippen. Nun verstaute er die Spritze wieder in einer vernickelten Schachtel und steckte diese in sein Pistolenhalfter. Dem öligen Glanz nach, den seine Augen beinahe sofort annahmen, war in der Spritze Morphium gewesen. Ein, zwei Minuten schaukelte er weiter auf seinem Stuhl, dann plumpste er nach vorn, mit den Ellbogen auf den Tisch, packte seinen Kumpanen beim Arm und sagte mit überwältigender Aufrichtigkeit in der Stimme:
    »Ich hatte da eben einen Gedanken, Nikolai. Weißt du, warum die Bolschewiken siegen werden?«
    »Warum?«
    »Weil in ihrer Lehre so viel glühende, lebendige …« – er schloß die Augen und suchte, mühsam mit den Fingern durch die Luft fahrend, nach dem richtigen Wort – »… innige und ekstatische Menschenliebe ist. Der Bolschewismus, wenn man ihn ganz an sich heranläßt, kann die höchsten im Herzen schlummernden Hoffnungen wiedererwecken, oder etwa nicht?«
    Der zweite Offizier spuckte auf den Boden.
    »Ach, George«, sagte er finster, »wenn sie dir die Tante in Samara aufgeknüpft hätten, tätst du nicht mehr von höchsten Hoffnungen reden, weißt du.«
    Der andere schloß die Augen und sagte eine Weile nichts. Dann plötzlich:
    »Es heißt, Baron Jungern wäre vor kurzem in der Stadt gesehen worden. Zu Pferde, im roten Umhang mit goldenem Kreuz auf der Brust, und keine Angst vor niemandem.«
    Anna, die sich gerade eine Zigarette anzündete, fuhr bei diesen Worten so zusammen, daß ihr beinahe das Streichholz aus der Hand fiel. Mir schien, sie brauchte Ablenkung.
    »Sagen Sie, Anna, was ist in der Zwischenzeit eigentlich passiert? Ich meine, seit dem Tag, als wir in Moskau ausrückten?«
    »Krieg«, sagte Anna. »Sie haben sich in den Gefechten wacker geschlagen, Tschapajew hat Sie ins Herz

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