Buddhas kleiner Finger
Grausen«, sagte er, »daß halb Rußland sich von diesem widerwärtigen westlichen Pragmatismus schon hat anstecken lassen. Damit meine ich natürlich nicht Sie. Doch ansonsten gibt es allen Grund zu dieser Feststellung.«
»Was ist denn so schlecht am Pragmatismus?«
»In früheren Zeiten wurden die wichtigen Beamtenposten bei uns nach Prüfungen vergeben, zu denen die Bewerber poetische Abhandlungen über das Gute und Schöne zu verfassen hatten. Das war ein sehr weises Prinzip. Versteht einer etwas von Dingen, die unermeßlich weit über den banalen bürokratischen Verrichtungen liegen, dann wird er zweifellos auch mit letzteren zurechtkommen. Da Ihr Geist sich fähig zeigte, in Sekundenschnelle hinter das Geheimnis der in dieser Zeichnung verschlüsselten alten Allegorie zu kommen, werden Ihnen all die Preislisten und Frachtpapiere gewiß kein Kopfzerbrechen bereiten, hab ich recht? Und mehr noch: Nach dieser Ihrer Antwort ist es mir eine Ehre, auf Ihr Wohl trinken zu dürfen. Schlagen Sie es mir bitte nicht aus!«
Als Serdjuk den nächsten Becher geleert hatte, dämmerte ihm unvermutet, was am Vortag gewesen war. Von der Station Puschkinskaja war er offenbar nach Tschistye prudy gefahren. Wozu, wußte er nicht – nur das Gribojedow-Denkmal stand ihm vor Augen, allerdings in seltsamem Winkel, wie von unter einer Bank hervor gesehen.
»Ja«, sagte Kawabata nachdenklich, »dabei ist diese Zeichnung eigentlich ganz furchtbar. Von den Tieren unterscheiden uns nur die paar Regeln und Rituale, die wir untereinander vereinbart haben. Sie zu verletzen ist schlimmer als der Tod, denn sie allein trennen uns von dem Abgrund des Chaos, der sich vor unseren Füßen auftut – und den man natürlich nur sieht, wenn man die Binde von den Augen nimmt.«
Er wies auf die Zeichnung an der Wand.
»Aber es gibt bei uns in Japan noch eine andere Sitte: sich immer einmal wieder für Momente von aller Tradition zu lösen, Buddha und Mara abzuschwören, wie man bei uns sagt, um den unnachahmlichen Geschmack der Realität zu kosten. Und diese Momente bringen mitunter ganz erstaunliche Kunstwerke hervor.«
Kawabata sah noch einmal auf den Mann mit den Schwertern am Abgrund und seufzte.
»Ja, bei uns ist das Leben jetzt auch so, daß der Mensch sich von allem lossagt«, meinte Serdjuk. »Und die Traditionen. Na ja, manche rennen jetzt in alle möglichen Kirchen, aber meistenteils guckt der Mensch natürlich Fernsehen und denkt ans liebe Geld.«
Serdjuk merkte, daß er mit dem eben Gesagten das Niveau des Gesprächs in den Keller gefahren hatte; nun mußte er unbedingt etwas Gescheites von sich geben.
»Das rührt wahrscheinlich daher, daß der Russe von Natur aus keinerlei metaphysischen Drang verspürt«, fuhr er fort, während er Kawabata das leere Glas zurückgab. »Er begnügt sich mit einem Mix aus Atheismus und Alkoholismus, das ist, wenn man ehrlich sein will, unsere vorherrschende geistige Tradition.«
Kawabata goß Serdjuk und sich wieder ein.
»Sie erlauben, daß ich in diesem Punkt etwas anderer Meinung bin«, sagte er. »Und zwar aus folgendem Grund. Kürzlich erwarb ich für unsere Sammlung russischer religiöser Kunst …«
»Sie sind ein Sammler?« fragte Serdjuk.
»Aber ja«, sagte Kawabata, stand auf und ging zu einem der Wandregale. »Auch dies gehört zu den Grundsätzen unserer Firma. Wir versuchen immer so tief wie möglich in die Seele jener Völker einzudringen, mit denen wir geschäftlich zu tun haben. Wobei es nicht etwa darum geht, einen zusätzlichen Profit aus dem Umstand zu schlagen, daß man die betreffende … wie sagt man auf russisch? Mentalität?«
Serdjuk nickte.
»Dies ganz und gar nicht«, fuhr Kawabata fort, während er eine große Mappe aufschlug. »Dahinter steht vielmehr der Wunsch, jegliches Tun in den Rang der Kunst zu erheben – und mag es noch so weit von ihr entfernt scheinen. Sehen Sie, wenn Sie zum Beispiel, sagen wir, eine Partie Maschinengewehre einfach so ins Leere absetzen und mit ihr auf dubiose Weise Umsatz erzielen, spielen Sie sozusagen nur die Rolle einer Registrierkasse. Verkaufen Sie die gleiche Partie an Geschäftspartner von denen Sie wissen, daß diese Leute immer, wenn sie einen Menschen ins Jenseits befördern, vor den drei Hypostasen des Schöpfers dieser Welt Reue zu bekunden haben, so verwandelt sich der profane kommerzielle Vorgang in einen künstlerischen Akt und gewinnt eine völlig andere Qualität. Nicht für die anderen natürlich, aber für Sie. Sie
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