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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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befinden sich im Einklang mit dem Universum, in dem Sie agieren, und Ihre Unterschrift unter dem Vertrag erlangt existentiellen Charakter wie … Ist mein Russisch korrekt?«
    Serdjuk nickte wieder.
    »Also einen existentiellen Charakter wie, sagen wir, ein Sonnenaufgang, wie die Gezeiten des Meeres und das Schaukeln eines Grashalmes im Wind. Worauf wollte ich eigentlich hinaus?«
    »Auf Ihre Sammlung.«
    »Ach ja. Hier ist sie, wollen Sie nicht einen Blick darauf werfen?«
    Er reichte Serdjuk ein großes, mit einem Bogen Transparentpapier abgedecktes Blatt.
    »Ich darf Sie bitten, vorsichtig zu sein.«
    Serdjuk nahm das Blatt in beide Hände. Es handelte sich um ein verstaubtes Stück gräulicher Pappe von offenbar erheblichem Alter. Darauf stand, mit Hilfe einer Schablone aufgetragen, in schrägen, schwarzen Buchstaben das Wort GOTT.
    »Was ist das?«
    »Das ist eine russische konzeptualistische Ikone vom Anfang des Jahrhunderts«, erklärte Kawabata. »Eine Arbeit von David Burljuk. Sagt Ihnen der Name etwas?«
    »Könnte sein.«
    »Er ist seltsamerweise in Rußland wenig bekannt. Aber das tut nichts zur Sache. Schauen Sie nur!«
    Serdjuk blickte noch einmal auf den Karton. Die Lettern waren von weißen Linien geschnitten – offenbar an den Stellen, wo die Schablone mit Klebestreifen befestigt gewesen war. Das Ganze wirkte grob, fast wie ein Stiefelabdruck, und war mit Farb klecksen verunziert.
    Serdjuk fing Kawabatas gespannten Blick auf und brummelte ein gedehntes »Jaah«.
    »Wie viele Bedeutungen darin verborgen sind!« fuhr Kawabata fort. »Warten Sie, sagen Sie noch nichts – lassen Sie mich erst einmal erzählen, was ich sehe, und sollte ich etwas vergessen haben, ergänzen Sie es. In Ordnung?«
    Serdjuk nickte.
    »Also«, sagte Kawabata. »Da haben wir zunächst die Tatsache, daß das Wort ›GOTT‹ mit einer Schablone aufgetragen ist. Sowie es zu Beginn eines Menschenlebens ins Bewußtsein dringt – schablonenhaft, bei Myriaden von Geistern in identischer Form. Wobei es hier schon sehr darauf ankommt, wo die Schablone aufliegt. Ist das Papier uneben und rauh, wird der Abdruck unscharf, und wenn da zuvor schon irgend etwas anderes gestanden hat, weiß man gleich gar nicht, was am Ende herauskommt. Deswegen sagt man ja: Jeder hat seinen eigenen Gott. Achten Sie des weiteren auf die herrliche Grobheit der Lettern – an den Ecken reißt sich der Blick regelrecht wund. Kaum zu glauben, daß einer auf die Idee kommen könnte, dieses vierbuchstabige Wort für den Ursprung ewiger Liebe und Barmherzigkeit zu halten, deren Abglanz das Leben auf dieser Welt halbwegs ermöglicht. Andererseits: Gleicht dieser Stempel nicht am ehesten einem Brandzeichen, mit dem man das Vieh markiert? Weil es das einzige ist, worauf der Mensch bis zum Ende hoffen kann?«
    »Ja«, sagte Serdjuk.
    »Wenn das aber schon alles wäre, hätte die Arbeit, die Sie in Händen halten, nichts weiter Herausragendes an sich – diese Ideen kriegt man von A bis Z in jeder atheistischen Dorfklubveranstaltung vorgeführt. Nein, es gibt da noch ein winziges Detail, das diese Ikone wahrhaft genial macht, ja, ich scheue mich nicht zu sagen, es erhebt sie über die Rubljowsche ›Dreifaltigkeit‹. Sie ahnen gewiß, wovon ich rede, doch gönnen Sie mir das Vergnügen, es selbst in Worte zu kleiden.«
    Kawabata machte eine feierliche Pause.
    »Ich meine natürlich die vom Befestigen der Schablone herrührenden weißen Streifen. Es wäre kein Problem gewesen, sie nachträglich zu übermalen, doch dann wäre die Arbeit nicht das, was sie jetzt ist. Man schaut auf dieses Wort, gelangt vom anscheinenden Sinn zur offenkundigen Form und stößt plötzlich auf die unausgefüllten Zwischenräume – dort, in diesem Dazwischen, und nur dort, begegnet einem das, worauf die großen, häßlichen Buchstaben so eifrig hindeuten. Denn das Wort ›GOTT‹ verweist nun einmal auf etwas, worauf sich nicht mit Fingern zeigen läßt. Das ist beinahe Meister Eckart, das ist … Na, egal. Nicht wenige haben sich bemüht, das in Worte zu fassen. Allen voran Lao-tse. Das mit den Rädern und den Speichen, wissen Sie noch? Oder das mit dem Gefäß, dessen Preis sich einzig nach dem Hohlraum darin richtet? Was, wenn ich sagte, daß jedes Wort ein solches Gefäß ist, und alles hängt davon ab, wieviel Leere es in sich zu bergen vermag? Würden Sie das anders sehen?«
    »Nein«, sagte Serdjuk.
    Kawabata wischte sich die Tropfen redlichen Schweißes von der Stirn.
    »Und jetzt

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