Büchners Braut: Roman (German Edition)
aufweisen.
Nun ja, meinte Minna da scherzhaft, mein Vater ist eben Sohn eines Postillions. Da liegt es mir wohl im Blut. Ich reise durchaus gerne, aber aus Lust und Laune reiste ich nie, stets aus Pflicht.
Eilig zog Minna ihre Strümpfe wieder an, band sie notdürftig fest. Das Spiel war zu Ende. Sie wollte ihre Füße verstecken, das feine, blaurote Aderngespinst um ihre Knöchel, die hornhäutigen Fersen. Nichts war mehr mit »Mademoiselle jolis pieds et jolies mains«. Die Jahre zeichneten so erbärmliche Spuren in die Haut. Um die Augen Krähenfüßchen, die prallen Lippen sanken allmählich in sich zusammen. Dass ihr Hals und Dekolleté nicht zu Falten neigten, verdankte sie ihrer rundlichen Statur, die sie nicht zur Karikatur einer dürren Vogelscheuche von Lehrerin werden ließ.
Jetzt noch eine halbe Stunde Schreiben und Lesen, danach soll es gut sein für heute.
Hanna, lies bitte vor. Hier.
Als sie dem Kind das Buch reichte, fiel ihr ein, wie lange sie nicht in den Schriften Fröbels gelesen hatte. Oder auch bei Betty Gleim.
Die dünne Stimme des Mädchens füllte kaum den Raum. Minna ging wieder auf und ab, schaute auf die Uhr auf der Anrichte. Das leichte Kratzen der Kreide auf den Schiefertäfelchen begleitete die letzten Minuten. Dann durften die Mädchen gehen. Die Täfelchen blieben zurück, wurden aufgeräumt, die Stühlchen zurechtgestellt. Wie brav sie waren. Nun, nicht immer, was etwas Beruhigendes hatte. Der eigene Wille soll noch zu erkennen sein. Aber das wurde in den Büchern beileibe nicht vermittelt. Die Erziehung von Mädchen war eine Gratwanderung, gerade genug Bildung, wie zur Einsicht in Leben und Gesellschaft notwendig war, um die Pflichten als Frau zu erkennen. Mehr nicht. War es ihr daher lieb und recht gewesen, »nur« die kleinen Mädchen zu erziehen, wo es lediglich um die Grundkenntnisse ging? Lesen und Schreiben, Rechnen, Sticken, Stopfen, Stricken, Heimatkunde, Singen, etwas Geografie, denn Gottes Welt war ja groß, und natürlich Bibelstunde, die christliche Seele pflegen, und ein reinlicher Leib sollte der Schatz eines jeden Mädchens sein.
Bei den größeren Mädchen kamen die Zweifel und die Frage: Warum dies alles und wohin? – In die Ehe. – Und wenn nicht?
Den Männern gefallen ist zu wenig, hatte Betty Gleim schon vor Jahrzehnten geschrieben. Minna hockte sich vor das Bücherregal, suchte das Buch. »Über die Bildungder Frauen und die Behauptung ihrer Würde in den wichtigsten Verhältnissen ihres Lebens. Ein Buch für Jungfrauen, Gattinnen und Mütter«. Sie blätterte. Wie alt das Buch war. Aber es gab nicht viele vergleichbare Bücher. Die Gleim war weit gegangen in ihren Gedanken. Sie referierte alles mit großer Selbstverständlichkeit, ohne etwas verteidigen zu wollen. Als junger Frau war Minna daher alles so sicher erschienen, und inzwischen mussten Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen um jeden Funken Anerkennung kämpfen, als würde die Welt untergehen, wenn Frauen einen eigenen Beruf ergriffen. Minna hatte den Vorteil, als Erzieherin in Frankreich einen guten Ruf zu genießen, ohne als Blaustrumpf verdächtigt zu werden. Hier stand sie in der großen Tradition der französischen Gouvernanten, die in ganz Europa angesehen und gesucht waren.
Mit dem Buch in der Hand lehnte sie sich im Sessel zurück, obgleich sie wusste, Julie würde um diese Zeit unten auf sie warten. Müde war Minna nicht, aber von einer seltenen Gelassenheit getragen. Die wollte sie sich noch einen Augenblick erhalten. Endlich rückte sie die Haarnadel in eine andere Position. So, jetzt ist es gut. Im Buch fand sie ihre alten Markierungen, eingelegte Zettelchen mit Notizen.
Ja, sie wusste auch um ihren Vorteil, französische Bildung und Sprache mitzubringen und gleichzeitig Protestantin zu sein. Eine Konstellation, die ihr in Deutschland und England genügend Möglichkeiten für hervorragende Anstellungen eingebracht hätte. Warum blieb ich dann in Straßburg? Sie tippte mit dem Zeigefinger auf das Buch. In London hätte sie durch ihren Bruder Louis-Théodore einen eigenen Anteil an gesellschaftlichemUmgang erlangen können, hätte in den besten Haushalten Zugang gefunden. Möglicherweise lag es an Theo. Der gute Junge. Ihn als seine ältliche Schwester in seinem Londoner Leben als Familienvater und beschäftigter Leiter einer Chemiefabrik zu behelligen wäre doch fast – na – taktlos. – Was soll das? Taktlos? Mutlos war ich! Nur das und müde, so entsetzlich müde, als hätte
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