Buerger, ohne Arbeit
Mitte der Arbeitsgesellschaft,
im Kreuzungspunkt von Aufstiegshoffnungen und Abstiegsängsten. Hier, bei den durchschnittlich qualifizierten und bezahlten
Arbeitern und Angestellten, finden wir Glauben jenseits ironischer Verspieltheit, Ernst ohne innere Verzagtheit. Um weiter
nach oben vordringen zu können, muß man an die Werte und Normen, die dort als Spielmarken zirkulieren, glaubwürdig glauben,
was auf die Forderung hinausläuft, den Glauben auf die Sphäre abzustimmen, in der man derzeit noch agiert. Wie ein Novize
glauben, mit bescheidenem Ernst, das ist die rechte Art. Um nicht nach unten durchzufallen, muß man Signale der persönlichen
Unentbehrlichkeit versenden, selbstbewußte Arbeitsfreude demonstrieren, die Bereitschaft, mehr zu tun als rein vertraglich
nötig. Erst diese Absicherung nach unten versenkt die Maske ins Gesicht; Ende aller Als-ob-Spielereien, Geburt des verfügbaren
Subjekts. Oben moralisiert man das Arbeitsvermögen, unten den Arbeitsertrag; hier wie dort läuft Arbeit |120| gewissermaßen mit, als Nahrungsquelle oder Bühne. Nur in der Mitte moralisiert man die Arbeit selbst.
7. Und jene, die erzwungenermaßen außerhalb stehen oder gar nicht erst ins Berufsleben hineinfinden: Bilden sie die Avantgarde
einer Zukunftsgesellschaft, in der die Menschen größeren Abstand von der Lohnarbeit gewinnen? Die Moralisierung des Arbeitsverhältnisses
mit seinen drei Angriffspunkten – Fähigkeiten, materielle Früchte, Schaffensprozeß – bleibt ihnen jedenfalls verwehrt. Doch
das allein besagt nur wenig über die Einstellung zur Arbeit als gesellschaftlicher Normalität der Lebensführung. Lebt der
Arbeitslose inmitten arbeitender Menschen, bedarf es außergewöhnlicher Anstrengungen, um angesichts der eigenen Situation
Selbstbewußtsein zu entwickeln. Er geht gezwungenermaßen auf Entzug, verklärt, darunter leidend, die Lohnarbeit zum Lebensideal
und sehnt sich nach dem »Rückfall«. Lebt der Arbeitslose dagegen länger unter seinesgleichen und ohne Aussicht auf »Normalisierung«,
dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, daß er das an sich Anormale seiner Lage routinemäßig zu betrachten anfängt. Mit der
schwindenden Hoffnung auf Eintritt bzw. Wiedereintritt ins Erwerbsleben verblaßt der Arbeitsglaube zur unbestimmten Sehnsucht,
gleicht er sich, ohne einer neuen Überzeugung Platz zu machen, mehr und mehr dem Fernweh an.
Die These vom abnehmenden Identifikationsertrag der Arbeit findet weder oben noch unten, weder in der Mitte noch außerhalb
der Arbeitsgesellschaft hinreichend Bestätigung; sie ist kein wirksames Gegengift gegen die Einschüchterungsversuche der Orthodoxie.
Schon in den neunziger Jahren hatten sich die in sie gesetzten Erwartungen gründlich zerschlagen, konstatierte man resigniert
den steten Bedeutungsgewinn der Lohnarbeit. 106
8. Neue Strategien waren gefragt. Wenn der »Arbeiter« den »Menschen« nicht von selbst aus sich entband, mußte die Entbindung
per Kaiserschnitt vonstatten gehen. Wer aus dem erbitterten Wettlauf um Arbeit freiwillig ausschied oder, |121| unfreiwillig ausgeschieden, darauf verzichtete, wieder an den Start zu gehen, begründete dadurch einen Rechtsanspruch auf
Entschädigung. Schließlich dämpfte er die Konkurrenz unter den Arbeitsbesitzern und verhalf ihnen dadurch zu einer günstigeren
Verhandlungsposition. »Prämien für Aussteiger«, finanziert aus jenen Überschüssen, die die Teilnehmer am Arbeitsprozeß den
Verzichtleistenden zu danken haben, 107 das klang nach neuer Gerechtigkeit, das forderte die »Herren der Arbeit« angriffslustig heraus. Die radikalisierte Forderung
zog zugleich das Resümee der frühen deutschen Debatte. Selbst wenn die Wiederbelebung der Arbeitsgesellschaft subjektiv gelang,
auf dem Weg der Individualisierung und Moralisierung des Arbeitsverhältnisses, faktisch hatte sie den Anspruch preisgegeben,
jeder und jedem ein eigenes Leben auf der Grundlage berufsmäßigen Erwerbs zu ermöglichen. Für alle reicht die Arbeit nicht,
die »gute« am allerwenigsten, darin kamen sämtliche Analysen überein. Hielt die Orthodoxie den Anspruch dennoch aufrecht,
war es um ihre Glaubwürdigkeit geschehen, schwächte sie ihn ab – ob Job, ob gute Stelle, Hauptsache Erwerb! –, untergrub sie
die Legitimation der Arbeit. Hoffte sie in ihrer Not auf die neue Jobmentalität (»wenn Arbeit ihren Wert verliert, dann ist
der Verlust der Arbeit kein großer Verlust
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