Buffy - 22 - Spike & Dru
Stimmen waren klar und kräftig,
während sie laut auf Griechisch beteten. Ein junger Mann in Schwarz,
wahrscheinlich ebenfalls ein Priester, schwenkte ein eisernes Räuchergefäß
hin und her, als könnte der brennende Weihrauch den Weg für das tote
Mädchen reinigen.
Sechs große Männer, dem Aussehen nach Fischer, trugen den
verstümmelten Leichnam in seinem Sarg die Straße hinauf. Hinter ihnen
ging die Familie des Mädchens, ebenfalls in Schwarz gekleidet. Ihr lautes
Wehgeschrei übertönte noch die Gebete der Priester. Schließlich folgte der
Rest der Trauergäste, jede Seele aus dem Dorf im Tal und jede von ihnen in
Schwarz gekleidet.
Als der Leichenzug sie passierte, konnte Sophie die Augen nicht von der
Mutter des toten Mädchens wenden. Die Frau musste von ihrem Mann und
einem hoch gewachsenen Jungen gestützt werden, der nur ihr Sohn sein
konnte. Sie weinte, als würde ihr das Herz aus der Brust gerissen, und
Sophie erkannte, dass dies in gewisser Hinsicht auch zutraf. Solche Gefühle
waren ihr fremd, denn sie hatte ihre Eltern in jungen Jahren verloren und
konnte sich an den Schmerz und die Tragödie nicht erinnern. Alles, was sie
spürte, war quälende Einsamkeit.
Die trauernden Menschen zogen an ihr vorbei und ignorierten den
Straßenstaub, der sie wie Gespenster erscheinen ließ. Erneut senkte Sophie
den Blick zur sonnengebleichten Straße, von Schuld überwältigt, und dachte
an den Krieg. Noch hatte Hitler diese Insel nicht erreicht. Vielleicht würde
der Krieg der Nazis, mit dem sie Europa erobern wollten, bald ein Ende
haben. Mykonos war bis jetzt unberührt von dem Konflikt, der die ganze
Welt zu überziehen drohte. Aber das bedeutete nicht, dass dieses kleine
Inseldorf vom Krieg verschont blieb. Der Krieg gegen die Finsternis hatte
seinen Schatten auf diese Menschen geworfen und einen hohen Preis
gefordert.
»Sophie«, flüsterte Yanna.
Die Jägerin blickte auf, blinzelte gegen die grelle Sonne an und sah, dass
man sie bemerkt hatte. Die trauernde Mutter funkelte sie hasserfüllt an. Mit
einem Schrei der Wut riss sich die Frau von ihrem Mann und Sohn los, löste
sich von der Prozession, die ihre einzige Tochter zu ihrer letzten Ruhestätte
brachte, und stürmte über die Straße auf sie zu. Jeder Muskel in Sophies
Körper spannte sich. Sie wollte zurückweichen und kam sich jetzt nicht nur
wie ein Eindringling, sondern wie eine Art perverser Voyeur vor. Aber es
war bereits zu spät. Valeries Mutter hob ihren schwarzen Schleier und
enthüllte ein Gesicht, das so zerfurcht und wettergegerbt war wie das der
Fischer. Ihr Gesicht war von Hass und Kummer gezeichnet, und ihre Augen
waren rot und feucht. Tränen sah man keine mehr.
Hass. Die Frau gab ihnen die Schuld. Sie kümmerte es nicht, dass die
Leichen von Haversham, Rubie und Morgan auf ihre Überführung nach
Europa warteten. Es war ihre Tochter in diesem Sarg, ihre Tochter, der man
den Kopf vom Körper abgerissen hatte. Für sie verkörperten Sophie und
Yanna den Rat. Und hatten demzufolge ihr kleines Mädchen auf dem
Gewissen.
Vier Schritte vor Sophie und ihrer Wächterin blieb die Frau stehen, zog
die Nase hoch und spuckte einen Klumpen grünen Schleim in den Staub vor
ihren Füßen. Dann, mit einem letzten hasserfüllten Blick, reihte sie sich
wieder in den Leichenzug ein. Die Prozession folgte der unbefestigten,
gewundenen Straße den Hügel hinauf. Wind kam auf und wirbelte den Staub
in die stickige Luft, und die sich entfernenden Trauernden waren wieder
Geister.
Unten im Dorf hatte das Glockengeläut aufgehört.
Sophie spürte die erste heiße Träne über ihre Wange rinnen und sich den
Weg durch den Straßenstaub auf ihrem Gesicht bahnen, und dann weinte sie
laut los. Nach einem Moment zog Yanna sie in ihre Arme. Mehrere Minuten
standen sie so da, bis Sophie schließlich drängte, die Straße zu verlassen.
Sie wussten nicht, wie lange die Beerdigung dauern würde, und Sophie
wollte auf keinen Fall noch am Straßenrand stehen, wenn die Trauernden
zurückkehrten.
London, England
20. August
Der Konferenzraum im vierten Stock des Hauses in der Great Russell Street
war völlig umgebaut worden. Der Tisch stand an der Wand gegenüber den
Fenstern, die Stühle waren auf ihm gestapelt. Der Rest des Raums wurde
jetzt von zwei Pritschenreihen eingenommen, und auf diesen Pritschen lagen
neun junge Mädchen, die um ihr Leben bangen mussten.
Auf der zweiten Pritsche der zweiten Reihe
Weitere Kostenlose Bücher