Bugatti taucht auf
vor, dass er Stahlskulpturen schuf, und er schweißte an Kränen, Getreidesilos, Lastenaufzügen, Hochspannungsmasten, Abwasserrohren, Turbinenrädern und Baggerschaufeln; bald musste er einen Mitarbeiter einstellen, und zu zweit schweißten sie in Tunneln, Zügen und auf Schiffen. Und als sein Sohn Emile, der auch Schlosser und Schweißer wurde, mit knapp zwanzig den Tauchschein machte und sich zum Unterwasserschweißer ausbilden ließ, stellten Max und er das ganze Unternehmen auf Arbeiten im, am oder unter Wasser um. Das war Ende der sechziger Jahre. Max selbst gelang es erst gegen Ende seines Lebens, sich den womöglich meistgehegten Wunsch zu erfüllen: zu tauchen, richtig zu tauchen, mit Sauerstoffflasche und Nassanzug und Tiefenmesser und allem Drum und Dran. Er war 89, als er seinen ersten Tauchgang machte, und er fand, es sei grade früh genug, um die nächsten Jahre noch etwas von seinem neuen Hobby und dem frischen Wissen zu haben; er machte Pläne, welche Tauchplätze er als Erstes sehen wollte, und er war bei alldem hochvergnügt, als hätte er irgendjemandem, den er sehr mochte, vielleicht sich selber, einen unerwarteten Streich gespielt. Er starb fast auf den Tag genau fünf Jahre nach der Wassertaufe, und sein Gesicht auf dem Totenbett war so kantig und heiter, als hätte er nichts versäumt. Jordi dachte oft an ihn.
Jordi war Schlosser, wie es sein Großvater und sein Vater waren, und Berufstaucher wie sein Vater und sein Bruder. Sie wollten damit keine Tradition begründen oder so etwas, es gab einfach nicht viele andere Möglichkeiten. So wie Jordi es sah, hatte sein Bruder gar nicht erst groß darüber nachgedacht, und er hatte zwar eine Weile nachgedacht, aber dann gefunden, dass ein Beruf nicht dazu da war, wie sollte er sagen, eine Erfüllung zu sein; wenn es darum ging, das Beste aus sich selbst zu machen, dann wäre das wohl mit jeder Arbeit möglich; jedenfalls war ihm seine nicht zu schlecht. Für kurze Zeit gehörte ihnen die Firma zu dritt; der Vater machte Jordi und seinen Bruder Manuel nacheinander zu Teilhabern, als sie volljährig wurden; alles hätte gut laufen können, aber Manuel ging weg aus Ascona, zuerst nach Zürich, später nach Amsterdam, irgendwann landete er in Mulhouse. Der Vater übertrug Manuels Anteil auf Jordi, und vor einiger Zeit zog er sich aus dem aktiven Geschäft zurück. Jordi konnte merken, wie seine Neugierde auf das, was in der Firma passierte, nachließ.
Jordi selbst tauchte nur noch in speziellen, schwierigen Fällen, z.B. als sie die beiden ertrunkenen Engländerinnen mitsamt ihrem Auto aus dem See holen sollten. Normalerweise saß er auf der schwimmenden Plattform in der winzigen Kabine mit dem Monitor und überwachte, was da unten vor sich ging. Von da aus konnte er die Videokamera steuern, und er sah jeden Taucher jederzeit; falls irgendetwas nicht stimmen sollte, hatte er alles Nötige zur Hand, um einzuspringen. Auch ein Notrufgerät.
Nach dem Gespräch mit Rita Baldi konnte Jordi nicht anders, als seine Tauchausrüstung und die Unterwasserkamera hervorzuholen. Er musste sich selber vergewissern, wie es jetzt da unten aussah. Luca, der das Wrack nie zu Gesicht bekommen hatte, sollte recht behalten: da war nichts außer einer Nabe, kaum als solche zu erkennen. Jordi machte ein Foto davon.
10
Jordi kannte Leoni Zippo nur vom Hörensagen, und er hatte eine vage Erinnerung daran, dass er ihn wohl ein paar Mal gesehen hatte; er musste dieser sehr kleine Mann sein, korpulent, aber nicht dick, der in unendlich langsamen Schritten in der Stadt unterwegs war, aber immer nur kurze Wege machte, vom Supermarkt zur Uferpromenade, um sich auf ein Bänkchen zu setzen, zum Zeitungskiosk und in die Kirche Santa Maria della Misericordia. Der Gang von Leoni Zippo war nicht nur langsam, sondern auch von einem Zittern begleitet, oder besser von einem Zittern behindert, oder vielmehr von einem Schütteln erschwert, das den ganzen Körper erfasste und durchfuhr, das zweifellos von einer Parkinson’schen Krankheit herrührte und das ein Gespräch mit Zippo in normalem Tempo oder eine Unterhaltung, in der man sich schnell über das Wesentliche verständigen konnte, so gut wie unmöglich machte. Zippo zitterte auch beim Reden, sein Kopf wackelte, seine Augenlider flatterten, sein Kiefer öffnete und verkantete sich und wollte sich nur schwer wieder schließen lassen, und seine Zunge und Lippen gehorchten ihm nur widerwillig, was Zippo verständlicherweise in umso
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