Bugatti taucht auf
Erleichterung.
21
Er war es leid, in Spuren zu gehen; was er, Jordi, wollte, hatte ihn nie einer gefragt, sein Ehrgeiz hatte ihn geleitet und manchmal irregeführt. Was ihn, Jordi, glücklich machte, war eine Frage, über die alle Leute, die er kannte, einschließlich Patrizia, hellauf gelacht hätten. Jordi ist nur alleine glücklich, hätten viele gesagt, oder in einer Hütte am Meer mit Schnaps und Weibern. So schlecht kannten sie ihn, so leicht glaubten sie ihm. Alles, was er sich einmal gewünscht hatte, hatte sein Bruder ihm genommen; alles, was er sich einmal gewünscht hatte, hatte sein Bruder bekommen. Den Rausch, die Familie.
22
Jordis Bruder Manuel und seine Frau Dani waren von Mulhouse zurück zum Lago Maggiore gezogen, nachdem das Kind auf die Welt gekommen war; sie wohnten jetzt auf der italienischen Seite in Luino und hatten einen Motorbootverleih. Das Geschäft lief leidlich.
Jordi sprach mit seinem Bruder weder über die Krankheit des Vaters noch redeten sie überhaupt über die Eltern. Nur manchmal flocht Jordi wie zufällig eine Bemerkung in beider Gespräch, etwas scheinbar Harmloses wie: »Mutter hat gerade Irisknollen gesetzt, an der sandigen Stelle hinten im Garten« oder: »Bei dem Sturm neulich hat es Vater samt seinem Fahrrad umgeweht, er musste sich in einem Hauseingang unterstellen, so heftig waren die Windböen«. Manuel reagierte höchstens mit einer Bewegung des Kopfes, die bedeutete, dass er den Satz gehört hatte, aber er gab nie eine Antwort, und weil Jordi wusste, dass es so war, sagte er alle diese Dinge, auch wenn sie unverfänglich schienen, im Grunde nur, um Manuel zu provozieren. Dessen Sturheit ging ihm auf die Nerven, wie ihm auch die Sturheit des Vaters auf die Nerven ging. Die Sturheit von allen dreien. Denn auch die Mutter hatte sich nie nach Manuel erkundigt, hatte nie gefragt, wie es ihm gehe, hatte nie aus seinem, Jordis, Mund wissen wollen, ob er und Dani und das Kind zusammen waren und gesund, und ob sie fröhlich waren und ein Auskommen hatten. Sie mussten nicht so tun, als würde sie das alles nicht interessieren und nichts angehen, denn sie erfuhren und wussten ohnehin alles; klein, wie die Stadt, und eng, wie die Gegend war, wurde ihnen im Groben zugetragen, was sie im Einzelnen nicht nachzufragen wagten, von fernen Bekannten und Nachbarn, die auf dem Laufenden waren und Bescheid wussten, die den Eltern aber nicht nahe genug standen, dass sie gelernt hätten, besser zu schweigen. Beide, Emile und Barbara, saugten alle Nachrichten in ihre Körper auf, ganz unscheinbar wurden sie, sobald von Manuel und seiner Familie die Rede war; sie hatten sich angewöhnt, keinerlei Reaktion, vor allem keine Neugierde, zu zeigen, dabei dehnte sich ihre Haut aus, sobald Neuigkeiten erzählt wurden, ihre Haut dehnte sich aus und wuchs der Neuigkeit entgegen, mit allen Härchen und Poren wurde sie still und aufmerksam und schweigsam und bereit, noch weiter zu werden und sich ganz dem Lauschen hinzugeben, die Haut ein einziges Empfangsorgan. Empfänger waren sie geworden, was ihren Sohn Manuel betraf. Empfänger von Schall, Empfänger von Worten, die sie sich zu einem Sinn zusammenfügten und dem Bild anzugliedern versuchten, das sie von ihrem jüngeren Sohn in Erinnerung hatten. Es war ihnen unmöglich geworden, diese Haltung aufzugeben, es hätte so gedeutet werden können, als würden sie ihre Überzeugungen aufgeben. Jemand anderem eine Frage zu stellen, undenkbar. Ihm, Jordi, eine Frage zu stellen, undenkbar. Und wenn Jordi ganz am Anfang dieser Entwicklung manchmal nachforschte und die Eltern fragte, aber wer könnte irgendetwas deuten außer euch selber, wer würde wissen, wie etwas zu verstehen ist, außer euch selber, und wen würde es mehr betreffen außer Manuel und mich, dann erntete auch er diese sich zurückziehenden, abschweifenden und beinahe leeren Blicke, die früher Manuel gegolten hatten.
Umgekehrt musste Jordi auch Manuel nicht sagen, dass der Vater krank war. Auch ihm hatten es sicher schon andere Leute unaufgefordert zugetragen. Aber dann konnte man Emile die Krankheit ansehen, und es war klar, dass er sich der Behandlung entziehen wollte.
Also begann Jordi sich vorzustellen, wie ein Gespräch mit dem Bruder ablaufen würde. Jordi würde sagen,
unser Vater wird nicht mehr lange leben
. Manuel:
Wir sind alle mal dran
. Jordi:
Nicht, dass du mir hinterher Vorwürfe machst
. Manuel:
Wieso Vorwürfe?
Jordi:
Dass du’s nicht rechtzeitig erfahren hast, um was
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