Bullenhitze
Wartebereich der Notaufnahme und starrten die Wand an.
»Hättest du gedacht, dass der einfach so springt?«, fragte Hain nach gefühlten Stunden.
»Als ich ihn da oben stehen gesehen hab, war die Sache für mich klar, ja. Da war es aber leider schon zu spät.«
»Was hätte ich tun können?«
Lenz brauchte lange für eine passende Antwort. »Nichts, Thilo. Wir werden vermutlich nie mehr erfahren, ob er hier unten abgehauen ist, weil er sich umbringen wollte, oder ob der Gedanke erst oben auf dem Dach in ihm gereift ist, doch das ist auch ohne jegliche Relevanz. Er hat, wann auch immer, die Entscheidung getroffen zu springen, und er hat es gemacht. Basta. Natürlich stellt man sich, wenn man nur ein paar Meter daneben stand, die Frage, ob er zu retten gewesen wäre, aber in diesem Fall würde ich das mit einem glatten Nein beantworten.«
»Klassischer Kurzschluss?«
»Klassischer Kurzschluss«, bestätigte Lenz.
»Meinst du, es gibt Ärger mit Ludger?«
»Nein, nicht im Geringsten. Was hättest du denn tun sollen? Hinterherspringen vielleicht?«
»Keine gute Alternative.«
»Na also.«
»Hat er dir noch irgendwas Wichtiges gesagt, nachdem du mich rauskomplimentiert hattest?«
Lenz dachte wieder nach. »Eigentlich nicht. Er sagte, dass Roland Kronberger ihm nichts erzählt hätte. Außerdem sei der viel zu sehr mit seiner neuen Traumfrau beschäftigt gewesen.«
»Wie hat er das gemeint?«
»Das hätte ich ihn gerne gefragt, aber in dem Moment hast du die Szene betreten.«
»Aber ich konnte doch nicht …«
»Lass stecken, Thilo, das war kein Vorwurf. Ich hab nur die Chronologie dargelegt.«
»Stimmt, danke. Und wer verbirgt sich hinter Kronbergers Traumfrau?«
»Ist das wichtig für uns?«, fragte Lenz gähnend zurück.
»Was weiß ich?«
Ein paar Sekunden saßen die beiden schweigend nebeneinander, bis die Tür hinter ihnen aufgeschoben wurde und der massige Körper von Ludger Brandt auftauchte.
Lenz und Hain sahen ihn müde an.
»Morgen, Ludger«, begrüßte Lenz seinen Vorgesetzten.
»Moin, Männer. Ihr seht aber mal richtig mies aus.«
»Ich für meinen Teil fühle mich auch so«, erwiderte Hain.
»Ich auch«, pflichtete Lenz ihm bei.
»Wollt ihr mir kurz erzählen, was passiert ist?«, fragte der Kriminalrat. Lenz nickte und begann mit einem kurzen Abriss der Ereignisse.
»Dann haben sie ihn in den Schockraum geschafft, doch es war nichts mehr zu machen. Der Doc hat gesagt, dass er dort ein paar Minuten später gestorben ist«, beendete der Hauptkommissar schließlich seine Schilderung.
31
Ungefähr zur gleichen Zeit, als Lenz und Hain in ihren jeweiligen Wohnungen unter der Dusche standen, legte Monika Wohlrabe einen dezenten Lippenstift auf, fuhr sich noch einmal vorsichtig durch die Haare und schaltete das Licht im Bad aus. Dann trat sie vor den großen Spiegel in der Diele und betrachtete sich in ihrer komplett schwarzen Garderobe. Obwohl ihr das, was sie sah, gefiel, fühlte sie sich bei dem Gedanken an den Termin, der ihr in einer knappen halben Stunde bevorstand, nicht sonderlich wohl. Oder, besser gesagt, maximal unwohl.
Um kurz vor 8.30 Uhr klopfte sie vorsichtig an der Tür zum Vorzimmer des Vorstandsvorsitzenden der Kasseler Kreditbank eG, Dr. Hilmar Tendorf. Nach einem freundlichen ›Ja bitte‹ von innen drückte sie die Klinke herunter, schob die Tür nach vorne und trat ein.
»Mein Name ist Wohlrabe. Monika Wohlrabe. Ich habe einen Termin bei Herrn Dr. Tendorf.«
»Aber natürlich, Frau Wohlrabe«, erwiderte die Dame hinter dem Schreibtisch, eine Frau von Ende 40 im dunkelgrauen Kostüm. Ihr Auftritt glich der Idealbesetzung einer Chefsekretärin.
»Herr Dr. Tendorf telefoniert noch. Er hat mich instruiert, Sie sofort zu ihm vorzulassen, wenn das Gespräch beendet ist. Wenn Sie möchten …«
Sie wurde von einem leisen Klingelsignal aus der Telefonanlage unterbrochen.
»Ach, sehen Sie, er ist schon fertig.«
Damit kam die Frau um den Schreibtisch herum, ging mit gemessenen Schritten zu einer Tür auf der linken Seite, und öffnete sie nahezu geräuschlos. Bevor ihre Hand nach der Klinke griff, um die auf der anderen Seite der Wand eingelassene Gegentür zu öffnen, strich sie sich den Rock glatt.
»Ihr 8.30-Uhr-Termin ist da, Herr Dr. Tendorf.«
Der untersetzte, mit schütterem Haar und dicker Brille wenig attraktiv wirkende Mann hinter dem Schreibtisch wuchtete seinen Körper hoch, fasste sich an die Krawatte und schloss den untersten Knopf seines
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