Burakkuboru: Die kleine süsse Überraschung (German Edition)
Frauen. Ich bin ein dutzend Mal fast gestorben und
habe ein dutzend Mal fast geheiratet. Deswegen erstens denken Sie nicht ein Mal
daran, Mitleid mit mir zu empfinden, zweitens könnten wir uns lange unterhalten
– ich hätte Gesprächsstoff genug; drittens habe ich einfach keine Zeit, Ihre
Geschichte zu lesen, deswegen bin ich auf Ihre … Kooperation angewiesen, auf
Ihre Erzähllust… Ich mache Ihnen einen Vorschlag: ich erzähle Ihnen eine
interessante Geschichte aus meinem Leben, daraufhin erzählen Sie mir eine von
Ihren. Wie klingt das für Sie?
.Klingt gut. Wecken Sie die Erzähllust in mir.
+Alles klar. Lassen Sie mich nur kurz überlegen…
~Dr. Pao richtet sich auf seinem Stuhl auf und verlagert
sein Gewicht auf seinen Ellbogen, seine Finger spielen mit seinen Lippen, sein
Blick wandert unter der Kamera.
+Ich erzähle Ihnen von meiner ersten richtigen
Solo-Rücksackreise, denn vorher hatte ich vergleichsweise nur Urlaub gemacht:
Sehenswürdigkeiten, Sonnenbaden, Spaziergänge am Strand – nichts Bewegendes...
Vor fünfundzwanzig Jahren etwa, direkt nach dem Studium wollte ich, entgegen
der üblichen Vorgehensweise, mir sofort eine feste Einstellung suchen. Jedoch
konnte mich meine Mutter davon überzeugen, ein damals längst üblich gewordenes
Erfahrungsjahr auf einem anderen Kontinent zu unternehmen. Sie wollte nicht
bloß, dass ich Erfahrung sammle, sie wollte, dass ich mich in Gefahren begebe,
mich in Abenteuer und Intrigen stürze. Ich hatte sie zuvor noch nie so
leidenschaftlich argumentieren erlebt. Sie hatte damit gedroht, selbst
wegzufahren, wenn ich bleiben sollte. Anscheinend war längst alles vorbereitet
… ich meine damit Ausrüstung, Finanzen, alternative Reisepläne und so weiter…
Meinem Vater war es zwar egal, ob ich wegfahre oder nicht, doch sobald er meine
positive Entscheidung erfuhr, kaufte er mir ein Flugkreiselticket wohl wissend,
dass die Maschinen damals eine hohe Ausfallquote hatten.
~H256m verengt seine Augen und schüttelt seinen Kopf.
.Was hat er Ihnen gekauft? Was für eine Maschine?
+Flugkreisel – die fliegende Untertasse, die vor sechzig
Jahren auf den Markt kam… Wissen Sie nicht, was ich meine?
~H256m schaut skeptisch, drückt seine Unterlippe gegen seine
Oberlippe.
.Ich kann mir zumindest vorstellen, was Sie meinen.
+Nun, wie gesagt, diese Fluggeräte hatten damals, bevor
Computer entwickelt wurden, jede Menge Probleme mit der Steuerung von
Irgendetwas … fragen sie mich nicht, was, ich bin ein Technikbanause. Auf jeden
Fall landete jede zehnte Maschine nicht da wo sie sollte, und genau das geschah
mit meiner Fluglinie. Ich war eigentlich nach Tikal unterwegs, wollte in der
Hauptstadt mindestens zwei Monate verbringen, bevor ich durch die kleinere
Städte weiterziehe. Dort wartete auf mich eine nette alte Dame, die mir ein
Zimmer überlassen wollte. Doch, wie es scheint, will das Schicksal nicht, dass
ich Tikal je zu Gesicht bekomme … ich habe es nach Tikal nie geschafft … in
meinem ganzen Leben nicht.
.Wo ist das überhaupt?
+Tikal? Die Hauptstadt von Mayareich? Mittelamerika!?
.Mayareich?
+Kennen Sie die Maya nicht?
.Ich kenne die Maya, aber ein Reich?!
~H256m schaut grimmig. Dr. Pao schaut H256m einige Sekunden
lang emotionslos an, dann wirft einen flüchtigen Blick auf den Ordner neben
ihm.
+Anscheinend ist bei Ihnen Einiges durcheinander gekommen,
aber das ist zu diesem Zeitpunkt nicht wichtig… Kennen Sie die Stadt Palenque?
.Palenque? Ich glaube, ich habe davon gehört… Muss da auch
irgendwo in der Gegend sein.
+Genau… Nachdem der Kapitän der Maschine, in der ich drin
war, technische Probleme gemeldet hat, sind wir noch weitere zweihundertfünfzig
Kilometer nach Westen geflogen, bevor wir landen konnten. Ich rief meine Mutter
an, sie schien sich über meine erlebten Todesängste zu freuen, wünschte mir
viel Glück und legte auf. Ich weiß noch, wie ich fünf Minuten lang mit dem
Hörer in der Hand stand und für mich völlig neue Gefühle eines nach dem anderen
entdeckte: Fassungslosigkeit, Empörung, Trostlosigkeit, Ohnmacht und dann
Gleichgültigkeit, Starrsinn und Auflehnung. Ich ging zu den Tempeln und
Palästen, ich durchlief die gesamte Touristenstrecke, schaute in jedes Loch,
blieb vor jeder Freske stehen und las jedes Informationsschild … bis die Sonne
unterging. Dann habe ich begriffen, dass ich kein Zimmer zum Übernachten habe
und dass ich im Grunde zu Müde war, um mich darum zu kümmern. Ich stand also da
- ganz
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