Bußestunde
kleinsten Winkel reichen, wir hinterlassen überall im Internet Spuren, jede Krone, die wir ausgeben, lässt sich zurückverfolgen, die Leute fotografieren überall, alles, was wir sagen, landet früher oder später in irgendeinem Blog, die Fernsehmedien dringen tiefer und tiefer in unser Privatleben ein, die Abhörvorrichtungen werden immer ausgeklügelter, unsere Handys zeigen exakt an, wo auf dem Erdball wir uns befinden, unsere SMS und unsere Mails werden gespeichert. An einem einzigen Tag hinterlassen wir Hunderte von Spuren, ohne uns darüber Gedanken zu machen.«
»Du hast dich dafür umso mehr damit beschäftigt«, sagte Arto Söderstedt.
»Aber ich habe fast genauso viel über die andere Seite nachgedacht«, sagte Gunnar Nyberg. »Was spielt es für eine Rolle, dass wir überwacht werden? Haben wir tatsächlich so viel zu verbergen? Warum brauchen wir so unglaublich viel Integrität? Ist dies nicht das Überbleibsel einer alten Gesellschaft, als wir gezwungen waren, ein offizielles und ein inoffizielles Leben zu führen? Heutzutage ist es okay, sich auch offiziell ein bisschen ungezwungener zu geben. Ist es nicht ein Zeichen der Stärke einer Gesellschaft, dass die Bürger es wagen, sich so zu zeigen, wie sie sind?«
»Nicht, wenn man eine ganze Überwachungsgesellschaft errichtet, die der einzige Garant dafür ist, dass wir in einer Demokratie leben.«
»Was ungefähr auch meine Schlussfolgerung ist«, sagte Gunnar Nyberg. »Und gleichzeitig können wir nicht so tun, als ob diese Entwicklung nicht stattfände. Unwiderruflich.«
»Gut«, sagte Arto Söderstedt nach einem Mausklick. »Jetzt steht sie im Netz. So einfach ist es heutzutage, Menschen in der großen Öffentlichkeit zu verleumden. Man hat die Freiheit, zu verleumden, wen man will und wie man will. Es gibt keine Chance für das Rechtssystem, einem auf die Schliche zu kommen.«
»Und du hast keine Hemmungen, daraus deinen Vorteil zu ziehen?«
»Absolut nicht.«
Sie blieben eine Weile sitzen. Dann sagte Arto Söderstedt: »Ich glaube, wir warten hier nicht auf eine Antwort. Sonst könnte jemand auf den Gedanken kommen, wir faulenzen.«
25
Sie trafen sich auf Hötorget. So war es abgemacht, und zu beider Überraschung funktionierte es. Nicht länger als zehn Minuten musste einer von beiden über einen Gemüsestand gebeugt dastehen und warten, und Jon Anderson hatte wohl geahnt, dass er derjenige sein würde. Er studierte eine Papaya, die so groß war, dass sie eigentlich Pawpaw genannt werden müsste. Auf einer Reise nach Thailand war er von einer Begriffsverwirrung befallen worden. Es schien, als wechselte die Papaya den Namen, sobald sie etwas mehr wuchs. Genauso verhielt es sich mit Squashes und Zucchini. Auch die lagen da, in der blassen Herbstsonne auf Hötorget, unmittelbar daneben. Eine Mischung großer und kleiner, gelb gesprenkelter, gurkenähnlicher krummer Dinger – und er wusste immer noch nicht, welche Zucchini waren und welche Squashes. Waren das nur unterschiedliche Namen, oder gab es einen realen biologischen Unterschied?
Bevor er auch hier über die Größenunterschiede in Verwirrung geraten konnte, spürte er eine Hand auf seiner Schulter, die die richtigen Proportionen wiederherstellte.
»Ich bin im Zweifel«, sagte Jorge Chavez.
»Ich auch«, sagte Jon Anderson. »Verdammte Pawpaws.«
»Du weißt, dass du wahnsinnig bist, ja?«
»Absolut. Was ist der Unterschied zwischen Squashes und Zucchini?«
»Aber so lange habe ich dich doch gar nicht warten lassen.«
Sie schlenderten zu dem Dienstwagen, den Jon Anderson in besorgniserregender Nähe der Bushaltestelle in der Kungsgatan geparkt hatte.
»Ich kann mir Hans Jörgen Bratt, den stellvertretenden Geschäftsführer von stopIT AB, nur schwer als Mörder vorstellen«, sagte Chavez. »Wie gesagt, ich bin im Zweifel. Ein dummdreister Schnösel, aber kaum ein Mörder. Schon komisch manchmal, was für seltsame Leute Chefs werden.«
Sie stiegen ein, legten die Sicherheitsgurte an, und Anderson meinte: »Ist das nicht ein Paradox? Die, die Chef werden wollen, sind selten geeignet. Und die, die geeignet sind, wollen nicht Chef werden.«
»Kann schon sein«, sagte Jorge. »Sieh dir nur Kerstin an.«
»Kerstin?«
»Na, als Chefin ist sie doch recht schlaff geworden. Zeit für Erneuerung.«
»Meinst du Kerstin Holm?«, fragte Jon und beging vor lauter Verblüffung die Todsünde, an Schwedens meistbefahrener Straßenkreuzung nach links in den Sveavägen einzubiegen. »Hast
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