Bußestunde
Nebenstraßen, bis du vor einem viel zu großen Wohnblock stehst. Du nimmst ein paar erleuchtete Fenster ins Visier und wartest.
Schließlich offenbart sich in einem der Fenster eine Silhouette. Es ist eindeutig die Silhouette einer Frau, obwohl die Konturen so zart und schmal sind und sie wild gestikuliert, als stritte sie mit jemandem.
Als wäre noch jemand in der Wohnung.
Und so ist es auch.
Direkt neben der ersten taucht eine zweite Frauensilhouette mit ungefähr den gleichen Konturen auf. Sie gestikuliert ebenso wild.
Und du lächelst. Es ist genau so, wie du es vermutet hast.
Sie haben sich wieder zusammengetan.
Und streiten und schreien wie gewöhnlich.
Matilda Broman und Alice Nordin wieder vereint.
Und sehr bald werdet ihr wieder ein Quartett sein, genau wie früher. Die alte Gang vom Gymnasium, wieder vereint.
Du zurrst deinen seltsamen rosa Tüllrock zurecht und machst dich auf den Weg.
Auf den Weg in die Nacht.
Wieder einmal.
37
Sie saßen in dem heißen, von Gestank erfüllten Raum und musterten einander. Ganz ruhig. Als sei nichts sonderbar. Als hätten sie nicht zu Hause in Schweden ein Chaos hinterlassen.
Wie Vater und Sohn.
»Ein hoher Preis«, sagte Paul Hjelm.
»Den zu zahlen du bereit warst«, sagte Tore Michaelis.
»Du hast mich so weit gebracht, dass ich bereit bin, ihn zu zahlen.«
»Du wirst zurück sein, bevor sie dich begraben können, mach dir keine Sorgen.«
Sie schwiegen einen Augenblick und betrachteten einander etwas eingehender. Einen kurzen Moment blickte Paul Hjelm zur Tür hinüber, wo Rawan Fahaidawi Wache hielt. Von seiner filterlosen Zigarette stiegen Kringel wie schwer zu deutende Rauchsignale zur Decke auf.
Aber hauptsächlich waren sie miteinander beschäftigt.
»War das wirklich nötig?«, fragte Paul Hjelm.
»Ich fürchte, ja«, sagte Tore Michaelis. »Um diese Sache durchzuziehen, brauchen wir ›total deniability‹, wie unsere britischen Kollegen zu sagen belieben. Außerdem musste ich dich dabeihaben. Bei alldem geht es in gewisser Weise um dich. Und die Deinen. Ich werde deine Hilfe brauchen, um bestimmte Dinge zu verstehen. Und um mich hineinzustehlen, natürlich.«
»Dich hineinzustehlen?«
»Uns beide, natürlich. Wie war die Reise?«
»Small Talk kommt mir im Moment nicht besonders angebracht vor«, sagte Hjelm.
»Ich bin kein Mann, der Small Talk betreibt«, sagte Tore Michaelis. »Ich will wissen, ob du gut genug in Form bist, um diese Sache durchzuführen. Es ist immerhin eine ziemlich umständliche Reise hierher nach Bagdad, wenn man viermal das Flugzeug wechseln muss und nicht einmal einen richtigen Sitzplatz auch nur von fern zu sehen bekommt.«
»Ich habe im Gepäcknetz zwischen Warschau und Taschkent nicht schlecht geschlafen«, sagte Hjelm. »Jedenfalls musste ich nicht fünf Stunden lang aufrecht neben einem dumpf murrenden Mongolen stehen, der Knoblauchzehen in den Achselhöhlen stecken zu haben schien.«
»Die humanitäre Hilfe unserer Zeit«, sagte Michaelis mit einem Schulterzucken. »Sie sieht nicht so aus, wie sie sollte. Weit entfernt von der Lutherhilfe, um es mal so zu sagen.«
»Ich sehe ein, dass ›Orpheus Life Line‹ nicht so offen agieren kann wie früher«, sagte Hjelm. »Die Konsequenzen der damaligen Offenheit habe ich ja mitbekommen.«
»Das haben wir alle«, fügte Michaelis hinzu. »Nicht zuletzt Rawan.«
Rawan Fahaidawi nickte, sodass seine Rauchsignale plötzlich Zickzackform annahmen.
»Aber man kann sich natürlich fragen, ob Feuerwerfer und komplette Gebisse wirklich zur Standardausrüstung einer humanitären Hilfsorganisation gehören müssen«, sagte Hjelm.
»Das muss erlaubt sein«, entgegnete Tore Michaelis.
Sie schwiegen eine Weile.
»Du hast meine kleinen Rätsel ja auf angemessene Weise gelöst, wie mir scheint«, fuhr Michaelis schließlich fort.
»Danke«, sagte Hjelm. »Aber jetzt muss Schluss sein mit solchem anachronistischen Spionagegebaren.«
»Ist schon so weit«, sagte Michaelis. »Versprochen.«
»Also was ist ›Sache‹?«
Michaelis nickte. »Du hast ja recht. Sozialen Umgang können wir später pflegen.«
»Oder gar nicht.«
»Das ist auch eine plausible Alternative«, sagte Tore Michaelis und fuhr ungerührt fort: »Diese ›Sache‹ ist ein ganz spezielles Überwachungszentrum im Rahmen der amerikanischen Kriegsmacht.«
»Warum habe ich geahnt, dass du ›amerikanische Kriegsmacht‹ sagen würdest?«, fragte Hjelm.
»Weil es einem so gut auf der Zunge
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