Bußestunde
Deiner und meiner, Jocke. War es nicht so?«
»Ja«, sagte Jocke. »Daran erinnere ich mich.«
»Wenn sie uns verhöhnt hatten. Uns bespuckt und bepisst hatten. Auf uns gekotzt hatten. Das weißt du doch noch?«
»Ja.«
Holms Hand lag weiter auf Bergstens Arm. Sie flüsterte: »Vorsichtig, Jocke. Gehen Sie nicht weiter.«
»Wie kam es dann hierzu?«, fragte Tiina Spinroth. »Wie konnte das geschehen? Das hier in diesem Scheißraum. Wie konntest du, Jocke?«
»Ich weiß nicht.«
»So eine Macht hatten sie über euch Jungen. So war es. Sie konnten euch bespucken, wie sie wollten, ihr wart trotzdem geil auf sie. Ihr wolltet sie um jeden erdenklichen Preis. Sie wussten, dass es keine Rolle spielte, wie sie euch behandelten. Ihr habt ihre schlanken Körper trotz allem begehrt.«
»Ja«, flüsterte Joakim Bergsten. »Da gab es kein Entrinnen.«
»Und so ist es noch immer. Seid ihr wirklich so vorprogrammiert, ihr Männer?«
»Ich weiß nicht«, flüsterte Bergsten.
»Du hast versucht, dich umzubringen, und als das nicht klappte, bist du Computerfreak geworden. Ich wurde drogenabhängig und gewalttätig. Es sind harte Jahre, diese Jahre auf dem Gymnasium. Entscheidende Jahre. Es kommt mir so vor, als sei diese Zeit das Schicksal selbst gewesen.«
Dann lachte Ulla Johansson. Nicht eine Sekunde lang nahm sie die Pistolenmündung von Matilda Bromans Kopf. Es gab keine Möglichkeit, etwas zu versuchen.
»Ich habe in Australien eine Therapie gemacht«, sagte Ulla Johansson. »Das war kein Kinderspiel. Einer härteren Therapie als der kann man sich gar nicht unterziehen. Ich musste so wahnsinnig viel verarbeiten, um mein Leben ins Gleichgewicht zu bringen. Vor allem dies hier. Ich muss es noch einmal erleben. Mich in dem schlimmsten Schmerz suhlen. Ich muss es noch einmal machen, Jocke. Stimmst du mir zu?«
»Hanna und die Clique scheinen nicht dazu aufgelegt zu sein, es zu bejubeln«, sagte Kerstin Holm. »Ist es nicht an der Zeit, jetzt aufzuhören, Ulla? Wir haben verstanden, was Sie sagen wollen.«
»Haben Sie das wirklich?«, fragte Tiina Spinroth. »Wie viele sind Sie? Wie viele von Ihnen haben gemobbt? Heben Sie die Hand.«
Keiner hob die Hand.
»Ein paar von Ihnen lügen«, sagte Ulla Johansson. »Das sagt allein die Statistik. Mindestens zwei von Ihnen waren aktive Mobber und haben Menschen, die ein bisschen anders waren, das Leben zerstört. Ich möchte wissen, wer von Ihnen es war. Wer in der berühmten A-Gruppe ein Mobber war.«
Keiner sagte etwas. Keiner rührte sich.
»Komm her, Jocke«, forderte Ulla Johansson. »Wir müssen es noch einmal machen. Wir müssen es austreiben aus unserem Leben.«
Joakim Bergsten stand still. Dann hob er Kerstin Holms Hand von seinem Arm und ging langsam auf Ulla Johansson zu. Es war eine stumme Wanderung. Alle Aufmerksamkeit war auf ihn gerichtet. Er schlich über den Boden, immer näher an den Kreis der Frauen heran, und es war, als triebe eine große Hand ihn vorwärts.
Die Hand des Schicksals.
Da wuchs hinter Ulla Johansson ein großer Schatten. Der Schatten im Scheinwerferlicht hinter ihrem Rücken war so riesig, dass sie hätte reagieren müssen.
Aber Ulla Johansson war ganz auf Jocke konzentriert.
Sie spürte Gunnar Nyberg auch nicht, als er sich nur noch einen Meter hinter ihr befand.
Und sie sah definitiv nicht die Hände, die die ihren packten und blitzschnell nach hinten bogen.
Der Eispickel fiel zu Boden. Die Pistole fiel zu Boden.
Und Nyberg bog ihre Arme so weit auf den Rücken, dass sie haltlos nach vorn fiel. Nur Gunnars Griff um ihre Handgelenke verhinderte, dass sie mit dem Kinn auf den Zementboden schlug.
Sie lag mit dem Gesicht auf dem harten Boden und war still, ganz still.
Nyberg drehte ihre Arme noch ein wenig höher auf den Rücken.
»Es gab eine Hintertür«, sagte er.
39
Rawan Fahaidawi fuhr Backwaren aus. Es war nicht einmal eine Camouflage, eine raffiniert ausgeklügelte Maskierung. Backwaren auszufahren war ganz einfach sein Broterwerb.
Er fuhr im gesamten vom Krieg verwüsteten Bagdad Baklava und Halwa aus. Und er lieferte überallhin.
Er tat das, seit er vor zehn Jahren in den Irak zurückgekehrt war. Nachdem seine schwedische Identität als Fawzi Ulaywi durch eine schwedische Sondereinheit namens A-Gruppe unmöglich gemacht worden war. Aber er leitete weiter die Hilfsorganisation »Orpheus Life Line«, und zwar vor Ort.
Rawan Fahaidawi hatte stets zwei Helfer, die seine honigtriefenden Kisten und Kartons trugen. Diese
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