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Bußestunde

Bußestunde

Titel: Bußestunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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begann, und in Berlin, als die Mauer fiel. Als die chinesische Armee in die Menge der Demonstranten schoss, war er in der Nähe des Platzes des Himmlischen Friedens, und er war in Santiago, als den Chilenen das Kunststück gelang, die Diktatur Pinochets abzuwählen. Dann kamen die Neunzigerjahre. Er war in Südafrika, als Nelson Mandela freigelassen wurde, und gleich nach Beginn des Golfkriegs war er in Kuwait. Er war im früheren Jugoslawien und wurde Zeuge des ersten europäischen Kriegs seit dem Zweiten Weltkrieg. Er fuhr nach Ruanda, wo zwei extremistische Hutu-Gruppen in einhundert blutigen Tagen eine Million ihrer Tutsi-Landsleute massakrierten. Zwei Tage nach dem Untergang der Fähre Estonia , bei dem achthundertzweiundfünfzig Menschen starben, fuhr er nach Estland. Als die erste freie Wahl in Bosnien stattfand, war er in Sarajevo, und es gelang ihm sogar, nach Kabul zu kommen, nachdem die Taliban die Macht in Afghanistan übernommen hatten. Danach war er wieder in Israel, um die Auswirkungen des immer häufiger auftretenden Phänomens »Selbstmordattentäter« zu studieren. Zum Jahrtausendwechsel befand er sich tatsächlich im Polizeipräsidium auf Kungsholmen in Stockholm, um vor Ort zu sein, falls der befürchtete Datenkollaps Schweden wider Erwarten außer Funktion setzen sollte, aber nur wenige Wochen später reiste er nach Wien, wo Jörg Haider dank ausgeprägter Fremdenfeindlichkeit mit an die Macht kam, während es einem berüchtigten Agentenkollegen gelang, Präsident in Russland zu werden. In Den Haag war er Zeuge, als Jugoslawiens früherer Präsident Slobodan Milošević wegen Völkermords vor Gericht gestellt wurde, und danach brachte er es fertig, genau zu dem Zeitpunkt im Hauptquartier des FBI auf der Federal Plaza in Manhattan zu sein, als die Flugzeuge in das World Trade Center krachten. Er war im Nahen Osten, als Israel als Reaktion auf die vielen Selbstmordattentate fast um das ganze Land eine Betonmauer baute, und reiste weiter in den Irak, um den Waffeninspekteuren der UNO unter Leitung von Hans Blix bei der Arbeit zuzusehen. Auch ohne eindeutige Belege sahen sich die USA zur Invasion des Irak veranlasst, wo er sich auch noch aufhielt, als die ersten Bomben auf Bagdad fielen. Nach dem Attentat der al-Qaida auf einen Pendlerzug, bei dem zweihundert Menschen starben, reiste er nach Madrid. Dann war er in Darfur im westlichen Sudan und sah Hunderttausende Menschen bei einem Völkermord sterben, den im Grunde niemand wahrnahm. Das Ende dieses Jahres feierte er in dem vom Tsunami heimgesuchten Thailand, wo er über Tausende von ertrunkenen und zerfetzten Menschen stieg auf der Suche nach schwedischen Staatsangehörigen, weil die Katastrophe von Pädophilen dankbar missbraucht wurde, um sich für tot erklären zu lassen. Es folgte wider Erwarten ein weiteres Jahr als Agent, und als er anonym wie immer an den Stränden von Khao Lak entlangwanderte, das Geruchsorgan gesättigt von Verwesung, dachte Tore Michaelis zum ersten Mal daran, sich zurückzuziehen. Als er danach wieder in London war und in die zerbombten U-Bahn-Wagen starrte, hatte der Gedanke weiter Form angenommen, und mit seinen Vorgesetzten hatte er sogar schon über einen Nachfolger gesprochen. Doch dann krachte es auch in Stockholm, und er legte die Pensionierungspläne vorerst auf Eis. Nachdem die geheim gehaltenen Ereignisse in Berlin im vergangenen Jahr einen weiteren großen internationalen Terrorangriff verhindert hatten, fuhr er wieder nach Bagdad, und nach weiteren Monaten im Angesicht von Tod und Verderben begann er sich alt zu fühlen. Er kehrte nach Schweden zurück und bereitete die Übernahme durch seinen ausgewählten Nachfolger vor. Seit drei Wochen war er zu Hause, als er plötzlich eines schönen Sommertags nicht zur Arbeit erschien. Er war ganz einfach verschwunden.
    Tore Michaelis war tatsächlich »unser internationaler Experte«. Und merkwürdigerweise war es ihm bei alledem irgendwie gelungen, einen menschlich verantwortbaren Kurs einzuhalten. So schien es jedenfalls dem zu diesem Zeitpunkt etwas ermatteten Paul Hjelm, Tore Michaelis’ auserwähltem Nachfolger.
    Er rieb sich die Augen und fragte sich, wie spät es sein mochte. Nicht, dass es irgendeine Rolle gespielt hätte, denn diese Akte gedachte er nicht beiseitezulegen, ehe er sie von vorn bis hinten durchgelesen hatte. Folglich vermied er es, auf die Uhr zu sehen. Stattdessen stand er auf und stellte E.S.T. wieder an. Die sanften Melodien von Fading Maid

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