Bußestunde
von dem damaligen schwedischen Konsul in Florenz stammte, der sattsam dafür bekannt war, dass er sich mit seinem Analphabetismus brüstete, schrieb Tore Michaelis: »Hier in der Toskana, so nahe am Paradies, wie man es in dieser Welt sein kann, wird das Gehirn von Sonne, Meer, Olivenöl, Knoblauch, Rotwein, Kunst und Schönheit leicht ein bisschen benebelt. Vielleicht ist es dieser Nebel, den wir bisweilen Güte nennen – ein Wohlbefinden, das uns veranlasst, auch anderen wohl (oder jedenfalls nichts Böses) zu wollen. Ich ahne, dass wir von diesem Punkt, diesem Zustand aus das Leben anderer beurteilen müssen. Es ist der westliche Nullpunkt im Verhältnis zu allen anderen. Beurteilen wir andere, wenn wir denken, dass es uns schlecht geht, dann gerät alles in Schieflage. Global gesehen gibt es im Westen keinen einzigen Menschen, dem es schlecht geht.«
Paul Hjelm ließ den Schlusssatz eine Weile in seinem Kopf kreisen, bevor er weiterblätterte.
Es gab noch zwei Dokumente. Das erste enthielt eine Aufzählung der bekannten internationalen Kontakte von Michaelis und umfasste nicht weniger als fünf dicht beschriebene Bögen. Das zweite war kurz und konzise, es war mit einer altmodischen Schreibmaschine auf einem Papier mit dem offiziellen Briefkopf der Sicherheitspolizei verfasst. Obwohl es keinen Titel hatte, brauchte Paul Hjelm nur ein paar Worte zu lesen, um zu verstehen, dass es sich um eine polizeiliche Ermittlung handelte. Der miserable Stil und die obligatorischen Eigenwilligkeiten der Rechtschreibung zeigten das eindeutig. Das Dokument war mit »Rudfeldt« unterzeichnet, mehr nicht. Es war schlicht und einfach nur die Unterlage für die interne Ermittlung der Säpo zu Tore Michaelis’ Verschwinden.
Paul Hjelm war gezwungen, den Text während des Lesens mehr oder weniger ins Schwedische zu übersetzen.
Michaelis war also seit drei Wochen zu Hause, als er vor drei Wochen verschwand. Am Donnerstag, dem 3. August, war er nicht ins Büro gekommen. Die Mitarbeiter waren so daran gewöhnt, dass er ohne Ankündigung verschwand, dass sie auf seine Abwesenheit überhaupt nicht reagierten. Erst als Sune, der engste Mitarbeiter des Säpo-Chefs, am Nachmittag zu einer Besprechung auf ihn wartete, wurde das Verschwinden bemerkt. Zwar konnte Michaelis plötzlich verreisen, aber offenbar war er immer sehr genau darin gewesen, seine Chefs darüber zu informieren, wohin er fuhr und warum. Nicht um deren Zustimmung zu erhalten – er ging seine eigenen Wege –, aber um einer Art von Sicherheit willen. Wenn man in seinem dubiosen Beruf von so etwas wie Sicherheit sprechen konnte. Weder sein Notebook noch sein Handy war da, und die Papiere, die sich bei näherer Untersuchung auf und in seinem Schreibtisch fanden, gaben keine Hinweise. Da es keine eigentlichen Mitarbeiter gab, wusste niemand in seiner Nähe – es gab gar keine Nähe –, womit er sich in der letzten Zeit beschäftigt hatte. Im Pausenraum hatte es kein Gerede gegeben – »Tore war keiner, der nur daherredet, das verspreche ich dir«, wie der Säpo-Chef gesagt hatte –, und eine Familie, mit der man hätte reden können, gab es nicht. Tore Michaelis hatte die Konsequenz aus seiner Lebensführung gezogen und war zeit seines Lebens Junggeselle geblieben.
Zeit seines Lebens, das jetzt vielleicht zu Ende war.
Paul Hjelm überlegte. Wo zum Teufel sollte er anfangen? Er musste natürlich ausführlich mit dem Säpo-Chef sprechen und mit dem unbekannten Rudfeldt, der die ergebnislose Ermittlung durchgeführt hatte, und er musste …
Ja, irgendwie musste er unbedingt herausfinden, womit Tore Michaelis sich nach der Rückkehr aus Bagdad eigentlich beschäftigt hatte.
Bagdad, dachte Paul Hjelm, und damit nahmen seine Überlegungen Fahrt auf.
5
Sara Svenhagen und Lena Lindberg schauten Filme an. Man konnte sie nicht direkt als Qualitätsfilme bezeichnen – ja, die Frage drängte sich auf, ob der Begriff »Film« überhaupt angebracht war. Man konnte sich vielleicht wirklich mit dem Wort »Datei« begnügen.
Sie sahen sich eine Computerdatei an.
Die Überwachungskamera im Videoladen des aramäischen Einwanderers Naoum Chamoun in der Jungfrugatan im Stockholmer Stadtteil Östermalm war genau genommen keine Überwachungskamera, sondern eine Kamera aus den allerfrühesten Tagen der rasanten Entwicklung der Webcams. In einer Zeit, da jeder Zehnjährige eine eigene Kamera besaß, um sie an den Computer anzuschließen und so seine eigene Existenz bestätigt zu
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