Bußestunde
beruhte ganz einfach darauf, dass der Vater, ein Bäcker, als junger deutscher Sozialdemokrat schon 1935 vor Hitler geflohen war und sich in dem kleinen Ort Tierp in Uppland niedergelassen hatte. Gleich nach dem Krieg, als die böswilligen Gerüchte, er sei ein Nazispion, allmählich verstummten und er sich endlich in der Gegend als Bäcker zu etablieren begann, begegnete Heinz Michaelis aus Wuppertal der üppigen Roslags-Schönheit Anna-Lisa, und das Paar bekam einen Sohn, Tore. Nach planlosen Studien an der Universität Uppsala beschloss der junge Tore zum Entsetzen seiner Eltern, Polizist zu werden. Er durchlief die Polizeiausbildung, ohne sich besonders auszuzeichnen, patrouillierte ein paar Jahre lang auf den Straßen Uppsalas, bis er, gemäß den der braunen Mappe beigefügten Beurteilungen seiner sozialen und diplomatischen Fähigkeiten, befördert und der damaligen internen Ermittlungseinheit zugeteilt wurde, die zu jener Zeit alles andere als weit entwickelt war.
Tore Michaelis war einer derjenigen, die die sich selbst kontrollierenden Einheiten der Polizei modernisierten – ähnliche Bestrebungen gab es in den Siebziger- und Achtzigerjahren überall in Europa –, und er knüpfte dabei genügend internationale Kontakte, um von der Sicherheitspolizei angeworben zu werden.
Wieder war es seine Rolle, zu modernisieren und – soweit möglich – zu demokratisieren. Jetzt war das schwieriger. Die Sicherheitspolizei war 1914 eingerichtet worden und beruhte auf der Zusammenarbeit der ermittelnden Polizei mit dem Generalstab. Die Abteilung nannte sich Polizeibüro und führte anfänglich ein kümmerliches Dasein. In eher modernem Sinne entstand die Sicherheitspolizei während des Weltkriegs, als sie der Regierung direkt unterstellt war und nicht das Geringste mit Demokratie und Modernität zu tun hatte. Danach wurde sie wieder der Staatspolizei zugeordnet. Als das gesamte Polizeiwesen Mitte der Sechzigerjahre verstaatlicht wurde, entstand eine besondere Sicherheitsabteilung, die Abteilung D, die direkt der neuen zentralen Reichspolizeibehörde unterstellt war. Erst Ende der Achtzigerjahre wurde die Sicherheitspolizei »Säpo« zu einer eigenen autonomen Einheit, in der Tore Michaelis eine Schlüsselposition innehatte.
Wenn auch streng geheim.
Paul Hjelm seufzte tief und lehnte sich in seinem über alle Maßen bequemen Bürosessel zurück. Bisher bot das Material keine größeren Überraschungen. Er ahnte, dass die kommen würden, wenn er zu dem detaillierteren Verzeichnis der Verdienste überging. Als er E. S. T., das Esbjörn-Svensson-Trio, mit Tuesday Wonderland angestellt hatte und sich von den eigenartigen Rhythmen einhüllen ließ, raffte er sich dazu auf.
Alles war gut belegt. Jeder einzelne Monat der Tätigkeit von Tore Michaelis bei der Säpo. Nicht sehr detailliert zwar, aber während sein Name mehr und mehr aus allen offiziellen Verlautbarungen verschwand, tauchte er gleichzeitig immer öfter in höchst inoffiziellen, um nicht zu sagen: topgeheimen Dokumenten auf. Seine Beziehungen zu den entsprechenden Militärs waren nicht immer ganz deutlich, aber wie es schien, gab es eine sehr viel engere Zusammenarbeit, als die Polizei zugeben wollte.
Einen sehr großen Teil seiner Zeit bei der Säpo schien er im Ausland verbracht zu haben. Eingetreten war er in die damalige Sicherheitspolizei in dem Jahrzehnt, bevor sie zur heutigen Säpo wurde, nämlich 1979 im Alter von zweiunddreißig Jahren. Von da an hätte man die Weltgeschichte eines Vierteljahrhunderts nach Tore Michaelis’ Bewegungsmuster schreiben können.
Er war in Kabul, als die Sowjetunion in Afghanistan einmarschierte. Er besuchte die kurdische Stadt Halabdscha, wo fünftausend Kurden mit chemischen Kampfstoffen ermordet wurden. Irgendwie gelangte er unmittelbar nach Leonid Breschnews Tod in die Sowjetunion, war gleich nach der britischen Invasion auf den Falklandinseln und unmittelbar nach der amerikanischen auf Grenada. Er besuchte Widerstandsbewegungen im gesamten wankenden Ostblock. In London studierte er die Resultate der ständigen Bombenattentate der IRA, in Madrid untersuchte er die Auswirkungen der Bomben der ETA, und er war Mitglied der internationalen Delegation, die die ersten Opfer der merkwürdigen neuen Krankheit Aids im südlichen Afrika untersuchte. Er war in Moskau, als Gorbatschow die Wendung der Sowjetunion zu Glasnost und Perestroika bekannt gab. Er befand sich im Gazastreifen, als sich das Wort »Intifada« zu verbreiten
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