Bußestunde
Sonst nichts, außer ein paar Kabeln für einen Computer, was vermuten ließ, dass Tore Michaelis mit einem Laptop gearbeitet hatte, nie mit einem stationären Computer. Dass dieser Laptop verschwunden war, konnte an und für sich erklärbare Gründe haben – er verließ das Präsidium nie ohne ihn –, aber wenn er beispielsweise auf einem Spaziergang verschwunden war, hätte sich der Laptop in seiner Wohnung in der Varvsgatan finden müssen. Das war anscheinend nicht der Fall. Er und sein Laptop und eventuell ein Kalender waren zusammen verschwunden. Das sagte wenig. Aus irgendeinem Grund trug er den Laptop bei sich, als er verschwand.
Am wahrscheinlichsten war wohl, dass jemand am Mittwochabend, den 2. August, zu ihm gekommen war, ihn und alles wesentliche Material mitsamt dem Computer gegriffen und anschließend das Land verlassen hatte. Im schlimmsten Fall wurde er gerade gefoltert, um langsam, aber sicher alles über die schwedische Sicherheitspolizei preiszugeben. Und außerdem alles über den MUST, den militärischen Nachrichtendienst.
Warum war man nicht stärker beunruhigt?
Was wusste die Säpo, das Paul Hjelm nicht wusste?
War es der Irak? Nicht unbedingt, natürlich – der Mann war als Spion ein Globetrotter mit Beziehungen in aller Herren Länder –, aber am aktivsten war er gegen Ende doch im Irak gewesen.
Paul Hjelm sah die außenpolitischen Schriften durch. Da gab es alles. Der Erdball am Anfang des 21. Jahrhunderts in Form eines traurigen Sorgenzugs. Sämtliche Schriften wirkten gründlich gelesen, aber es fanden sich keine Randnotizen in ihnen. Überhaupt keine Notizen. Wahrscheinlich hatte Tore Michaelis es ganz einfach nicht nötig, sich Notizen zu machen.
Nun glitt dieser Anflug von Misstrauen Paul Hjelm wieder durch den Kopf. Warum in aller Welt hatte ein Mann wie Tore Michaelis ausgerechnet ihn zu seinem Nachfolger erkoren? Wenn Paul Hjelm sich an Dinge erinnern wollte, musste er sich verflucht noch mal Notizen machen. Er war nicht Tore Michaelis, und er würde es nie werden.
Der einzige Hinweis in einer der Schriften fand sich am Ende der zweiten Publikation des Jahres in der Serie Tagesfragen der Weltpolitik – einem kleinen Band mit dem Titel Einladung mit dem Ellenbogen – Die Türkei und die EU , verfasst von einem Forscher am Außenpolitischen Institut. Da entdeckte Hjelm eine kleine Bleistiftzeichnung. Und es war schwer zu sagen, was sie vorstellte. Es wirkte wie ein Loch, und aus dem Loch flogen vierkantige Gegenstände, die ungefähr wie Zähne aussahen.
Zähne, die aus einem Loch in der Erde herausgeschleudert werden, das war Paul Hjelms erster Gedanke.
Nicht, dass es eine besondere Rolle spielte. Hjelm selbst zeichnete häufig Dinge, wenn er am Telefon redete. Wenn er dann nachher seine Kreationen betrachtete, konnte er sie nicht deuten. Die Hand reagierte eigenständig, ohne dass der Kopf beteiligt war. Dies hier sah ungefähr genauso aus.
Es war möglicherweise ein Problem, dass es sonst nirgendwo ähnliche Zeichnungen gab. Keine allgemeine Tendenz zu Kritzeleien bei Telefongesprächen oder gedanklicher Anspannung. Nichts. Nur diese eine – diese Quelle …?, die Zähne oder Maiskörner, oder was es denn sein mochte, sprühte.
Hjelm steckte die Einladung mit dem Ellenbogen – Die Türkei und die EU ganz einfach in die Tasche und hoffte, dass niemand etwas merken würde.
Im Übrigen war Michaelis’ Hinterlassenschaft im Präsidium nichts abzugewinnen. Hoffentlich gab es in seiner Wohnung etwas. Doch die Wahrscheinlichkeit war nicht sehr hoch. Tatsache war, dass die traditionellen Methoden sicher ausgereizt waren. Und damit würde auch Paul Hjelm Tore Michaelis definitiv nicht finden.
Aber finden würde er ihn.
Er fuhr los. Es ging unerwartet schnell, über die Västerbro zu sausen und nach Högalid zu gelangen. Die Varvsgatan erstreckt sich von der Hornsgatan bis fast hinunter nach Söder Mälarstrand. Nur fast, weil ihr nördliches Ende hoch oberhalb des Sundes nach Långholmen hinüber hängen bleibt. Genau dort, an diesem Enddarm, wohnte Tore Michaelis. Zwar waren das Haus und die Wohnung für den Mann mit dem »höchsten schwedischen Polizeiamt« ziemlich anspruchslos, aber die Lage war nicht anspruchslos. Sie war phantastisch.
Paul Hjelm stand in Tore Michaelis’ Küche und blickte über Riddarfjärden hinweg, über Långholmsvarvet genau auf der gegenüberliegenden Seite des Pålsund und weiter zum Stadshus und zu den stattlichen Fassaden von
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