Bußestunde
Kinder.
Die Sorgenkinder.
»Hat Michael immer in der Anstalt gelebt?«, fragte er.
»Wir versuchten, ihn bei uns zu Hause zu haben, aber es war schwierig. Er hatte Anfälle. Damit war nicht leicht umzugehen. Es blieb kein Leben für uns übrig.«
»Warum Järna?«
»Die Anthroposophen haben da ein Heim. Das passte gut. Er bekommt die Ruhe, die er braucht. Aber er heißt weder Michael Michaelis noch Michael Hagström. Er heißt Michael Larsson.«
»Warum?«
»Das war Tores Idee. Michael fand es gut. Also warum nicht?«
Ja, dachte Paul Hjelm. Warum nicht? Was ist letztendlich ein Name?
Er stand auf. Rastlosigkeit packte ihn. Das war ein Euphemismus für etwas viel Schlimmeres. Etwas, das ihm sagte, dass er drauf und dran gewesen war, seine Tochter einem wahnsinnigen Serienmörder zu opfern.
Als würde sie nicht schon genug gefoltert.
Er beugte sich in dem Besucherstuhl im Seniorenwohnheim Täppan in Tierp vor und fixierte den alten Mann und sein in hoffnungsfroher Erwartung aufgestelltes Schachspiel.
»Nächstes Mal spielen wir Schach, das verspreche ich Ihnen.«
»Nächstes Mal spiele ich mit Tore«, sagte Hans Hagström.
*
Sara Svenhagen konnte in Tova Hjelms Gesicht, das dem eines Totenschädels glich, noch Pauls Züge erkennen. Es kam ihr vor, als sitze sie einer Vogelscheuche gegenüber. Einer weiblichen Vogelscheuche, die wie Paul Hjelm aussah. Es war ausgesprochen seltsam.
Wie war es möglich, sich selbst auf ein solches Niveau zu hungern?
Sie warf Lena Lindberg neben sich einen Blick zu und sah, dass diese das Gleiche dachte. Was waren die Triebkräfte? Warum diese unerhörte Fixierung auf das eigene Aussehen? Sie mussten diese Frage vorerst beiseitelassen. Wahrscheinlich hatte Anorexia nervosa direkt mit dem Fall zu tun, doch im Augenblick ging es um anderes. Um dringliche und konkrete Dinge, die einer schnellen Klärung bedurften.
»Du solltest also von Tiina grüßen?«, fragte Sara.
»Ja«, sagte Tova, ihre großen Rehaugen in dem abgezehrten, mit Haut bespannten kleinen Gesicht sahen Sara an.
»Was bedeutet das? Kennst du sie?«
»Nein, aber sie sagte, dass ich die vier Polizisten in ihrer Wohnung grüßen sollte.«
»Hat sie ausdrücklich ›die vier‹ gesagt?«
»Ja.«
»Erzähl uns jetzt alles über Tiina.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Da ist eine Internetseite, wo sie ein supereffektives Abmagerungsmittel verkaufen, Anamagica. Ich fand, dass es sich gut anhörte, und schrieb ihnen, dass ich interessiert wäre.«
»Hast du nie daran gedacht, dass es ungesetzlich sein könnte?«, fragte Lena Lindberg.
»Daran denkt man nicht direkt als Erstes …«
»Also dachtest du auch nicht daran, was mit deinem Körper passieren würde, wenn du wirklich zehn Kilo pro Woche abnähmst, wie auf der Homepage behauptet wird?«
»Ich würde schlanker werden«, sagte Tova ausdruckslos.
»Und toter«, sagte Lena ebenso ausdruckslos.
»So, wie es scheint, existiert Anamagica aber gar nicht«, hob Sara Svenhagen an. »Es war nur ein Trick, um die Extremisten unter all den Anorektikern im Land anzulocken. Um sie gemächlich ermorden zu können.«
»Es ist klar, dass Anamagica existiert«, sagte Tova Hjelm, und in dem Blick, der Sara und Lena traf, lag etwas, was den beiden Polizistinnen bisher nur in besonderen Fällen begegnet war – bei Gesprächen mit Fanatikern verschiedener Art.
Und da kam ihnen die Einsicht, dass die Person, mit der sie jetzt sprachen, sehr wenig Ähnlichkeit mit dem Mädchen hatte, das als Paul Hjelms Tochter aufgewachsen war. Sie sprachen mit einer Maschine, einer Abmagerungsmaschine. Es ging um die stärkste aller Drogen, den bedingungslosesten aller Aufträge, die unausweichlichste Mission. Hier war eine radikale Umprogrammierung erforderlich, kein Zweifel.
Sara kehrte zur Grundfrage zurück. »Was ist heute passiert?«
»Ich bekam eine Antwort auf meine Anfrage. Ich sollte zu dem Videogeschäft in der Jungfrugatan gehen und warten, bis ich angerufen würde. Nach ein paar Minuten klingelte mein Handy, und eine Frauenstimme sagte, ich solle in das Haus auf der anderen Straßenseite gehen. Sie nannte mir den Türcode. Dann sollte ich in den ersten Stock hinaufgehen zu einer Tür, auf der Tiina Spinroth stände. Dort sollte ich die vier Polizisten, die in der Wohnung wären, herzlich von Tiina grüßen.«
»Es war also eine Frauenstimme?«
»Ja.«
»Was kannst du über die Stimme sagen?«
»Nicht viel. Ein wenig dunkel vielleicht. Tief.«
»Wie von
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