Bußestunde
einem Mann?«
»Nein, es war eine tiefe Frauenstimme.«
»Tiina Spinroth«, sagte Sara. »Weißt du, was daraus wird, wenn man die Buchstaben umstellt?«
Tova Hjelm schüttelte mit monumentaler Gleichgültigkeit den Kopf.
»Thinspiration«, sagte Sara Svenhagen.
Lena Lindberg warf ihr einen überraschten Blick zu, griff das Gesagte aber rasch auf. »Du weißt doch, was das ist?«, fragte sie. »Thinspiration, Pro-Ana?«
»Klar weiß ich das«, sagte Tova Hjelm tonlos.
»Kannst du diese Welt erklären?«
»Man will schmal sein.«
»Und das ist alles?«
»Ja«, sagte Tova Hjelm.
Lena betrachtete das bindfadendünne Wesen auf der anderen Seite des Tisches in dem kleinen Verhörraum und spürte, dass es nicht die geringste Chance gab, Tova zu erreichen. Sie war ganz einfach nicht anwesend.
»Kannst du noch mehr über Tiina Spinroth sagen?«, übernahm Sara Svenhagen. »Irgendetwas …«
»Ich glaube nicht …«
»Sie hat nicht gesagt, was du zu den vier Polizisten sagen solltest?«
»Nur dass ich sie grüßen sollte …«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Vernehmungsraums auf dem Flur der A-Gruppe, und Paul Hjelm stürzte herein. Er ging direkt zu seiner Tochter und nahm sie in den Arm. Damit löste er keinerlei Reaktion bei ihr aus, aber er umarmte sie weiter. Lange.
Dann straffte er den Rücken, wandte sich zu Sara und Lena um und nickte ihnen zu. Tränen standen in seinen Augen.
»Wir sind hier fertig«, sagte Sara Svenhagen. »Fahrt jetzt nach Hause.«
Und sie schob ihm einen zusammengefalteten Zettel hin. Er faltete ihn schnell auseinander und sah eine Reihe pedantisch sauber aufgeführter Telefonnummern. Er erkannte sogar Saras Handschrift und nickte dankbar.
Es gelang ihm, seine Tochter so zu stützen, dass sie aufstehen konnte. Einen Augenblick stand sie da und schwankte, als ob die Schwerkraft den Rest der Lebenskräfte überwältigen wollte, die nicht mehr auf Tova Hjelms Seite standen. Aber am Ende hielt sie sich auf den Beinen. Sie machte ein paar Schritte. Die Hand behutsam um ihren schmalen, schmalen Oberarm gelegt, führte Paul Hjelm sie über die Schwelle und hinaus in die Welt.
Sara und Lena sahen ihnen noch eine Weile nach.
»Was geht in einem Gehirn vor, das solche wie Tova ermordet?«, fragte Sara schließlich.
»Keine Ahnung«, entgegnete Lena. »Wirklich keine Ahnung. Man glaubt, man fängt an, das Böse zu kennen, die Verbrecher ein wenig zu begreifen, aber es gibt immer noch etwas Schlimmeres. Das ist keine erfreuliche Einsicht.«
»Er wird es nicht leicht haben mit ihr«, vermutete Sara.
»Ich weiß«, sagte Lena. »Den Blick kriegst du nicht so mir nichts, dir nichts aus der Welt. Was waren das für Telefonnummern?«
»Alle möglichen Krisentelefonnummern. Der Landesverband Anorexie/Bulimie-Kontakt, Anorexiezentren, Gesprächstherapeuten, Kliniken. Alles, was ich dazu finden konnte.«
»Was hältst du davon, wenn wir etwas konkreter werden?«
»Liebend gern.«
»Zum Beispiel ein Gespräch mit unserem alten Freund Naoum Chamoun führen? Ich ahne, dass er auf einem Berg interessanter Filme sitzt …«
Sara nickte, und sie standen auf.
»Es war ein langer Tag«, sagte sie.
»Eines langen Tages Reise in die Nacht«, fügte Lena Lindberg hinzu.
*
Nacht. Eine Einzimmerwohnung in der Slipgatan am Hornstull. Im alten Knivsöder.
Der Herbst steht vor der Tür. Die Nächte werden immer dunkler.
Paul Hjelm steht im Dunkeln und sieht aus dem Fenster. In den Wohnungen auf der gegenüberliegenden Straßenseite gehen die Lichter aus, eines nach dem anderen. Schließlich ist es vollkommen dunkel. Er betrachtet den Polarstern. Es ist lange her, seit er ihn das letzte Mal gesehen hat.
Vorsichtig öffnet er die Balkontür, und zum ersten Mal in seinem Leben tritt Paul Hjelm auf seinen Balkon hinaus.
Es ist noch immer ziemlich warm. Die Hausfassaden haben die Wärme des Tages gespeichert und geben sie jetzt wieder ab. Er legt die Hände auf das Balkongeländer und bleibt stehen.
Er weiß nicht, ob er überhaupt denkt. Falls ja, denkt es in ihm, für ihn. Er selbst ist völlig leer. Kein Gedanke erreicht ihn. Und doch gehen Dinge in ihm vor, Prozesse, die er nicht beeinflussen kann, die er einfach geschehen lassen muss. Sobald er selbst denkt, stellen sich nur Selbstvorwürfe ein, dass er ein schlechter, ein unzulänglicher Vater gewesen ist. Und das genügt nicht. Es ist besser, den anderen Prozessen zu vertrauen, dem, was in ihm denkt, was von einem anderen,
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