Bußestunde
unbekannten Ort kommt. Er hat trotz allem gelernt, sich diesen Prozessen anzuvertrauen.
Er bleibt stehen, bis der Polarstern verschwindet. Wahrscheinlich ist eine unsichtbare nächtliche Wolke vor den Stern geglitten, der seit so vielen Jahren den Menschen die Navigation durch eine unbekannte Welt erleichtert hat.
Vor einigen Tagen hat er einen Mann im Fernsehen sprechen hören. Er weiß nicht, wer der Mann war, vielleicht ein Wissenschaftler, aber er fasste die menschlichen Mysterien auf beispielhafte Art und Weise zusammen. Eigentlich gibt es nur drei Fragen der Menschheit. Drei simple Mysterien, die wahrscheinlich für unsere gesamte Zukunft ausreichen.
Die Frage nach dem Ursprung des Universums.
Die Frage nach dem Ursprung des Lebens.
Die Frage nach dem Funktionieren des menschlichen Gehirns.
Mehr ist für Paul Hjelm nicht nötig. Da sind alle Mysterien gesammelt, all die Neugier, die uns trotz allem antreiben muss. Diese drei Fragen enthalten alles.
So dachte er vor ein paar Tagen. Da hatten ihm diese drei Fragen gereicht. Jetzt ist er nicht mehr so sicher. Er steckt in einem der faszinierendsten Fälle seines Lebens – dem Verschwinden von Tore Michaelis –, und er ist mit dem wahnwitzigen Beinahetod seiner Tochter konfrontiert worden. Und er weiß nicht, ob diese beiden Phänomene wirklich unter die drei Hauptmysterien fallen. Vermutlich tun sie es.
Aber es fühlt sich nicht so an.
Der Polarstern kommt erneut zum Vorschein. Und verschwindet schnell wieder. Paul Hjelm fühlt sich wie ein Mann im Ausguck auf dem Großmast eines Segelschiffs im 16. Jahrhundert, das durch Gewässer segelt, die noch kein Mensch befahren hat. Bisher hat man zumindest gewusst, wo Norden war. Der Polarstern ist der Fixpunkt, der all die menschliche Geborgenheit in sich vereint, die noch geblieben ist, trotz aller Unsicherheit. Aber jetzt verschwindet er.
Paul Hjelm geht hinein.
Und begegnet dem seltsamen Rehblick seiner Tochter.
Sie liegt auf dem Sofa, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, und starrt ihn ausdruckslos an. Er geht zu ihr und setzt sich. Sie sehen sich an.
Schließlich sagt sie: »Papa?«
»Ja«, antwortet er.
»Bin ich wirklich krank? Ich fühle mich nicht krank.«
»Ja, Tova, es ist eine Krankheit. Ich habe versucht, sie zu verstehen, aber ich kann es nicht. Ich kann es wirklich nicht. Wir brauchen beide Hilfe.«
»Ich habe mich immer zu dick gefunden.«
Paul lächelt und rückt ein bisschen dichter an sie heran. Er nimmt ihre kalte schmale Hand, und sie lässt es geschehen. Er streicht behutsam über den Handrücken. Ihre Hand verschwindet fast in seiner.
»Und du bist es nie gewesen«, sagte Paul Hjelm. »Du bist nie dick gewesen.«
In dieser Nacht tut er kein Auge zu.
11
Kerstin Holm schlug die Augen auf. Sie blieb eine Weile liegen und versuchte zu verstehen, wo sie war. Es dauerte erstaunlich lange, bis sie begriff, dass sie in ihrem eigenen Bett lag. Es war seit mehr als einem Jahr der Ort, an dem sie stets erwachte. Sie hatte keine einzige Nacht anderswo verbracht als in ihrem Schlafzimmer, seit ihre kleine Familie in die Heleneborgsgatan in Högalid gezogen war. Und nur nach wenigen dieser Nächte war sie allein, wenn sie aufwachte. Jedes Mal, wenn sie die Augen aufschlug und zu verstehen versuchte, wo sie war, sah sie ihren Sohn.
Anders Holm war inzwischen zwölf Jahre alt und sollte vermutlich nicht mehr in Mamas Bett schlafen. Aber sie brachte es nicht übers Herz, ihm das zu sagen. Offenbar hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, mitten in der Nacht in Mamas Bett zu schlüpfen. Und sie konnte nicht abstreiten, dass es sich gut anfühlte.
Sie betrachtete ihn immer noch als ein Wunder. Nie würde sie vergessen, wie sie ihn bekommen hatte, wie die Hölle um sie herum explodiert war und er dann da gewesen war, nachdem der Staub sich gelegt hatte, und gleichsam die Hände nach ihr ausgestreckt hatte. Er war das, was jenseits des Infernos auf sie wartete. Der Trost.
Und das war es auch gewesen, als Bengt Åkesson starb. Der Trost auf der anderen Seite.
Anders.
Sie verstand nicht, warum sie das Bedürfnis hatte, jeden Tag Bengts Grab aufzusuchen. Bestimmt lag es auch an einer Spur von schlechtem Gewissen. Aber schlechtes Gewissen weswegen? Weil sie nichts mehr für ihn empfunden hatte? Kaum, denn mit jedem Fortschritt, den er in seinem Rehaprozess gemacht hatte, hatte sie gespürt, wie die Wärme in ihr stärker wurde. Die ersten unsicheren Schritte mit diesen eigentümlichen Krücken,
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