Byrne & Balzano 02 - Mefisto
Licht, um den Raum zu beleuchten. Das Schwarz-Weiß-Bild war ziemlich körnig, als wäre es mit einer Webcam oder einem billigen Camcorder aufgenommen worden.
Die nächsten Szenen ließen vermuten, dass jemand hinter dem zugezogenen Vorhang unter der Dusche stand. Das leise Rauschen des Wassers war zu hören. Sobald die Person in der Badewanne sich bewegte, blähte der Duschvorhang sich auf. Ein Schatten tanzte auf dem durchsichtigen Plastikvorhang. Die Stimme einer jungen Frau übertönte das Rauschen des Wassers. Sie sang einen Song von Norah Jones.
Jessica und Byrne wechselten wieder einen Blick. Diesmal in der Gewissheit, sich etwas anzusehen, das sie nicht sehen wollten. Und allein die Tatsache, dass sie es sich ansahen, bewies ihnen, dass gleich etwas Schlimmes passieren würde. Jessica spähte zu Cahill hinüber. Er schien den Film gebannt zu verfolgen. Die Adern an seinen Schläfen traten hervor.
Der Aufnahmewinkel der Kamera blieb unverändert. Über dem Vorhang stieg Dampf auf, der das obere Viertel des Bildes vernebelte.
Plötzlich wurde die Badezimmertür aufgerissen. Jemand betrat den Raum. Bei der schlanken Person schien es sich um eine ältere Frau zu handeln, die ihr graues Haar zu einem Knoten gebunden hatte. Sie trug ein mit Blumen bedrucktes, wadenlanges Hauskleid und eine dunkle Strickjacke. In der rechten Hand hielt sie ein langes Schlachtermesser. Das Gesicht der Frau konnte man nicht sehen. Allerdings hatte sie die Schultern und die Körperhaltung eines Mannes, und sie bewegte sich auch wie ein Mann.
Die Person zögerte kurz, ehe sie den Vorhang zur Seite zog, woraufhin die Detectives eine weiße nackte junge Frau unter der Dusche sahen. Aufgrund des schrägen Aufnahmewinkels und der schlechten Bildqualität konnte man die Frau nicht richtig erkennen. Der Blickwinkel ließ lediglich die Vermutung zu, dass sie in den Zwanzigern war.
Jessica erstarrte, als sie jäh begriff, warum Buchanan ihnen den Film vorspielte. Ehe sie sich versah, sauste das Messer, das die schattenhafte Gestalt in der Hand hielt, wütend auf die Frau unter der Dusche nieder und schlitzte ihr Fleisch, ihre Brust, ihre Arme, ihren Magen auf. Die Frau schrie. Blut, Hautfetzen und Gewebe spritzten auf Kacheln und Wände. Wie von Sinnen stach die Gestalt auf die junge Frau ein, bis sie auf den Boden der Badewanne sank – ihr verstümmelter Körper eine einzige, klaffende Wunde.
Dann war es so schnell vorbei, wie es angefangen hatte.
Die alte Frau huschte aus dem Zimmer. Das Wasser rauschte aus dem Duschkopf und spülte das Blut in den Abfluss. Die junge Frau regte sich nicht. Ein paar Sekunden später gab es erneut eine kurze Störung, ehe der Originalfilm weiterlief. Das nächste Bild zeigte eine Großaufnahme von Janet Leighs rechtem Auge, wobei die Kamera sich drehte und langsam zurückfuhr. Die Original-Filmmusik wurde Augenblicke später von Anthony Perkins' durchdringendem Schrei aus dem Haus der Bates unterbrochen:
Mutter! Mein Gott, Mutter! Blut! Blut!
Als Ike Buchanan das Gerät abschaltete, herrschte in dem kleinen Raum fast eine volle Minute Schweigen.
Sie waren soeben Zeugen eines Mordes geworden.
Jemand hatte einen brutalen, grausamen Mord auf Video aufgezeichnet und ihn genau an der Stelle in Psycho eingefügt, wo im Originalfilm die Mordszene unter der Dusche gezeigt wurde. Alle Anwesenden hatten schon genug Bluttaten in der Realität gesehen, um zu erkennen, dass es sich hier nicht um eine filmische Inszenierung handelte. Jessica sprach es aus:
»Das war echt.«
Buchanan nickte. »Ja, sieht so aus. Was wir gerade gesehen haben, ist eine Kopie. Unsere Audio-Videoabteilung untersucht in diesem Augenblick den Originalfilm. Die Qualität ist etwas besser, aber nicht viel.«
»Ist auf dem Band noch mehr zu sehen?«, fragte Cahill.
»Nichts«, erwiderte Buchanan. »Nur der Originalfilm.«
»Woher stammt der Film?«
»Er wurde in einer kleinen Videothek in der Aramingo ausgeliehen«, sagte Buchanan.
»Wer hat ihn hierhergebracht?«, fragte Byrne.
»Der Mann sitzt im Verhörraum A.«
***
Der junge Mann im Verhörraum A war aschfahl. Er war Anfang zwanzig mit kurz geschnittenem Haar, hellbraunen Augen und feinen Gesichtszügen. Er trug ein lindgrünes Poloshirt und eine schwarze Jeans. Auf dem Formular 229, das jeder Zeuge ausfüllen musste, standen sein Name und seine Adresse sowie die Informationen, dass er an der Drexel University studierte und zwei Teilzeitjobs hatte. Er wohnte in Fairmount in
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