Byrne & Balzano 3: Lunatic
es für klüger, ihn nicht zu bedrängen. Beide verstummten wieder, und ihre Gedanken wandten sich Walt Brigham zu – wie die Gedanken aller Polizisten in Philadelphia an diesem Tag.
»Achtunddreißig Dienstjahre«, sagte Byrne schließlich. »Walt hat ’ne Menge Leute eingelocht.«
»Meinst du, es war jemand, den er in den Knast gebracht hat?«, fragte Jessica.
»Damit würde ich anfangen.«
»Als du dich mit ihm unterhalten hast, bevor du gegangen bist, hat Walt da irgendeine Andeutung gemacht, dass er Probleme hatte?«
»Nee, überhaupt nicht. Ich meine, ich hatte den Eindruck, dass ihn der Gedanke an den Ruhestand ein bisschen betrübt hat. Doch er schien sich darauf zu freuen, seine Lizenz zu machen.«
»Lizenz?«
»Ja, als Privatdetektiv«, sagte Byrne. »Er hat gesagt, er wolle weiter in dem Fall von Richie DiCillos Tochter ermitteln.«
»Richie DiCillos Tochter? Ich weiß nicht, was du meinst.«
Byrne verschaffte seiner Partnerin einen kurzen Überblick über die Ermordung von Annemarie DiCillo im Jahre 1995. Jessica lief ein kalter Schauer über den Rücken. Das hatte sie nicht gewusst.
Als sie durch die Stadt fuhren, musste Jessica daran denken, wie klein Marjorie Brigham in Byrnes Armen ausgesehen hatte. Sie fragte sich, wie oft Byrne schon in einer solchen Situation gewesen war. Er konnte andere verdammt einschüchtern, wenn man auf der falschen Seite stand. Doch wenn er zuließ, dass jemand seine Sphäre betrat, und wenn er den anderen dann mit seinen dunklen smaragdgrünen Augen anschaute, vermittelte er das Gefühl, er sei der einzige andere Mensch auf der Welt und dass die Probleme des anderen auch seine Probleme geworden seien.
Die Realität holte Jessica ein. Der Job wartete.
Es gab eine tote Frau namens Kristina Jakos, an die sie denken mussten.
30.
M oon steht nackt im Mondschein. Es ist spät. Das ist seine Lieblingszeit.
Als er sieben Jahre alt war und sein Großvater zum ersten Mal erkrankte, dachte er, er würde ihn niemals wieder sehen. Er hatte tagelang geweint, bis seine Großmutter sich schließlich erweichen ließ und ihn mit ins Krankenhaus nahm. In jener langen Nacht, die Moon so sehr verwirrt hatte, stahl er eine Glasphiole mit dem Blut seines Großvaters. Er verschloss sie fest und versteckte sie im Keller des Hauses.
An seinem achten Geburtstag starb sein Großvater. Das war das Schlimmste, was Moon je erlebt hatte. Sein Großvater hatte ihm vieles beigebracht, hatte ihm abends Geschichten vorgelesen und ihm Märchen von Ungeheuern, Elfen und Königen erzählt. Moon erinnert sich auch an lange Sommertage, als Familien zu Besuch kamen. Richtige Familien. Es wurde Musik gespielt, und die Kinder lachten.
Dann kamen die Kinder nicht mehr.
Fortan lebte seine Großmutter völlig zurückgezogen, bis zu dem Tag, als sie mit Moon in den Wald ging, wo er den kleinen Mädchen beim Spielen zusah. Mit ihren langen Hälsen und der makellosen weißen Haut sahen sie aus wie die Schwäne im Märchen. An dem Tag tobte ein furchtbares Unwetter. Donner krachte durch den Wald; Blitze zuckten über den Himmel und erschütterten die Welt. Moon wollte die Schwäne beschützen. Er baute ein Nest für sie.
Als seine Großmutter erfuhr, was er im Wald getan hatte, brachte sie ihn an einen dunklen, furchteinflößenden Ort, wo andere Kinder lebten, die so waren wie er.
Moon schaute jahrelang aus dem Fenster. Jede Nacht kam der Mond zu ihm und erzählte ihm von seinen Reisen. Moon lernte Paris und München und Uppsala kennen. Er erfuhr von der Sintflut und der Gräberstraße in Pompeji.
Als seine Großmutter krank wurde, durfte er nach Hause fahren. Er kehrte an einen stillen, verlassenen Ort zurück. Ein Ort, an dem die Geister lebten.
Jetzt ist seine Großmutter tot. Bald wird der König alles niederreißen.
Moon masturbiert im sanften blauen Licht des Mondes. Dabei denkt er an seine Nachtigall. Sie sitzt im Bootshaus und wartet. Im Augenblick schweigt ihre Stimme. Moon vermischt sein Sperma mit einem einzigen Tropfen Blut. Dann legt er seine Pinsel bereit.
Später wird er sich seine beste Kleidung anziehen, ein Stück von dem Strick abschneiden und ins Bootshaus gehen.
Er wird seiner Nachtigall die Welt zeigen.
31.
B yrne saß in der Elften Straße in der Nähe der Walnut in seinem Wagen. Er hatte vorgehabt, heute zeitig nach Hause zu fahren, doch sein Wagen hatte ihn hierher gebracht.
Byrne war unruhig, rastlos. Er wusste warum.
Er musste immerzu an Walt Brigham denken. Er sah
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