Byzanz
pure Angeberei hielt.
»Welches Buch darf ich denn bringen?«, fragte er honigsüß.
Schuft, dachte Anna, er versuchte sie mit Almosen abzuspeisen. »Bessarion hat mir versprochen, lieber Vater, dass Ihr mir die Bestände zeigt.«
»Die Bestände … so, so«, sagte der etwas fassungslos. »Natürlich, die Bestände. Dann folgt mir!« Sein Kopf schien noch etwas kantiger, seine Nase noch spitzer geworden zu sein. Äußerst ungern führte er sie ins Allerheiligste, in das nicht einmal die Mönche Zutritt besaßen.
Sie schritten durch die kleine, spitzbogige Tür aus Platanenholz unter dem Andreaskreuz hindurch. Im Vorbeigehen fiel ihr eine Ikone auf, die Christi Geburt darstellte. Vor ihr erstreckte sich ein großer Saal, den Regale wie Waben durchzogen. Und überall lagen Kodizes und auch Rollen. Wie ein Bienen- oder Ameisenbau. Wo mochte sich die Königin befinden?, fragte sie sich. Es musste sie geben, und sie wollte sie entdecken. »Wie ist die Ordnung?«
»Nun, in der linken Hälfte befinden sich die Schriften in der Reihenfolge ihrer Entstehung. Die ganze rechte Abteilung beherbergt Kodizes, die wir entweder noch nicht einordnen konnten oder können. Entschuldigt die Unordnung, aber mein Vorgänger …« Auch wenn der Zwerg ein Frauenfeind war, so rührte Anna doch, wie sehr der Mann unter der Vernachlässigung der Bibliothek litt. »… Na … de mortuis nihil nisi bene …« Aus den Augenwinkeln warf er ihr einen prüfenden Blick zu.
»Über die Toten soll man nur auf gute, also auf wohlwollende Weise reden. Aber eigentlich ist die Formulierung eine falsch übersetzte Empfehlung des weisen Gesetzgebers Solon, der riet, nichts Schlechtes über den Verstorbenen zu reden. Allerdings zitiert Diogenes Laertius Chilon von Sparta mit der Äußerung: über einen Toten nicht schlecht zu reden. Beachtlich ist, dass die Lateiner das griechische nicht schlecht mit dem Lateinischen bene , also gut, übersetzen.«
»Was wisst Ihr über Chilon?«, rutschte der Bibliothekar aus Neugier ins Examinieren.
»Er wurde auch Cheilon von Lakedemonien genannt und war einer der sieben Weltweisen.«
»Und die anderen?«
»Thales von Milet, Pittakos von Mytilene, Bias von Priene, Solon von Athen …«
»Gut, gut, das reicht. Welches ist der bemerkenswerteste Ausspruch des Chilon?«
»Erkenne dich selbst. Manche Schriftsteller geben als Verfasser auch Thales, Bias oder Solon an …«
»Gut, gut, gehen wir auf ein anderes Gebiet. Für welchen Kirchenvater wurde dieser Satz sehr wichtig?«
»Für den heiligen Augustinus.« Und sie fügte mit freundlicher Ironie hinzu: »Guter Vater.«
»Warum?«, fragte der unbeeindruckt weiter.
»Weil der heilige Augustinus meinte, dass Weisheit nur in der Weltverlorenheit zu finden ist. So schrieb er: Noli foras ire, in te ipsum redi, in interiore homine habitat veritas. «
»Was heißt das?«
»Geh nicht nach draußen, geh in dich zurück, im inneren Menschen wohnt die Wahrheit.«
Der kleine Mann wurde ungeduldig. Er begann mit den Augen zu zwinkern. »Was das in unserer Sprache heißt, weiß ich …«
»Ihr wollt also nicht wissen, was es heißt, sondern was es bedeutet?«, fragte Anna, sich zu einer ernsten Miene zwingend, doch ihre lachenden Augen verrieten sie. Der Mönch drohte ihr scherzhaft mit dem Finger.
»Dass in der Vernunft der Menschen ein Wahrheitsgrund außerhalb der Bibel besteht.«
»Ein Wahrheitsgrund außerhalb der Bibel? Ist das nicht Häresie?«
»Aber nein, guter Vater! Oder vielmehr, es wäre häretisch, wenn ich behauptet hätte, dass in der Vernunft der Menschen kein Wahrheitsgrund bestünde. Denn die Vernunft bekam der Mensch von Gott. Wäre also in der Vernunft keine Wahrheit, dann wäre auch in Gott keine Wahrheit, denn wie könnte das, was von ihm kommt, ihm widersprechen? Aristoteles hatte in der Metaphysik den Widerspruch im Reden über Gleiches ausgeschlossen.«
Der Mönch hob kapitulierend die Arme. »Ich sehe, Bessarion hat dich gut präpariert. Du wirst also Herrn Nikolaus helfen bei der Büchersuche. Aber versprich mir, wenn du etwas entdeckst, das du nicht verstehst, das dir anstößig vorkommt, ja auch nur den geringsten Zweifel in dir weckt, frage den Abt oder frage mich. Suche Belehrung und womöglich Beistand bei uns, denn was du vorhast, ist nicht ungefährlich! Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht, aber in diesem Raum sind Himmel und Hölle, nein, nicht vereint, auch nicht vermischt, sondern umeinandergewunden wie
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