Byzanz
einen Ort, an dem Frauen selten, Mädchen hingegen niemals geduldet wurden. Sie verdankte ihr Glück den Umständen, dass der Abt ihr Lehrer und der bedeutendste Förderer der Bibliothek ihr Vater war. Schon einer dieser Gründe hätte ausgereicht, um ihr die Tore der Büchersammlungen zu öffnen, beiden jedoch konnte sich nicht einmal der größte Frauenhasser unter den Mönchen widersetzen. Auf dem Weg zur Bibliothek malte ihre Phantasie nach dem Rhythmus ihres klopfenden Herzens ein wahres Wunderbild von dem, was sie dort erwartete: die Empfangshalle des Paradieses, Gottes Thronpalast, die Grotte des Grals. Und dann trat sie endlich durch die schlichte Tür und war enttäuscht. Der heilige Ort des Wissens glich in seiner Nüchternheit dem Kontor ihres Vaters, nur dass die Angestellten dort keine Mönchskutten trugen wie die Kopisten der Klosterbibliothek, die an zwölf Tischreihen saßen. Obwohl die Decke tief über den emsig Schreibenden hing, drang durch die Fensterfront genügend Licht, das sich über den Raum verteilte. An der Stirnseite hockte unter einem riesigen Kreuz ein kleinwüchsiger Mann. Sein Kopf wirkte dreieckig, die Nase dürr und lang, die Haut wie aus Pergament. Wenn sein Körper nur halb so schnell war wie seine tief liegenden Augen, dachte Anna, hätte man den Zwerg flink nennen müssen. Sie folgte Bessarion, der auf den Aufseher der Bibliothek zuging. Als dieser den Abt entdeckte, sprang er freudig auf und eilte ihm entgegen. Seine Beine konnten es an Schnelligkeit mit seinen Blicken aufnehmen. Nichts Unterwürfiges machte Anna in dem Verhalten des Bibliothekars aus, nur Hochachtung. Bibliophile unter sich, Erotomanen des Lesens.
»Verehrtester, wie schön, dich zu sehen!«, krächzte die Stimme des Mönches unangenehm, aber aufrichtig.
»Ganz meinerseits! Ganz meinerseits!«, erwiderte Bessarion herzlich.
»Äh, äh, ich habe da eine kleine Privatbibliothek ausfindig gemacht, die wir ankaufen könnten. Verarmter Adel, ehemals mächtig und sehr gebildet, nun nur noch mittelmäßig und mittellos. Tempi passati .«
»Bedeutende Stücke darunter?«, schlug Bessarions Neugier zu, der Annas Anwesenheit gerade vergaß. Belustigt stellte sie fest, dass beim Thema Bücher selbst der gelassene Bessarion in Eile geriet und aus seinen hektischen Worten Gier hervorblinkte.
»Soweit ich sehen konnte etwas arabische Medizin, ein bisschen arabische Arithmetik, na ja, und zwei Schriften von Platon und zwei von Proklos, die ich noch nicht kenne.«
Bessarion machte ein Gesicht, als hätte er tagelang gehungert und plötzlich sei ihm Bratengeruch in die Nase gestiegen. »Platon, sagst du? Proklos, sagst du?«
»Ja, und das ›Hikmat al-ishraq‹.«
Bessarion traten die Augen aus den Höhlen, und Anna fürchtete schon, dass sie herausfielen. »Die Philosophie der Erleuchtung des al-Suhrawardi! In diesem Buch soll der Muslim über Aristoteles hinausgehen und Platon verstehen. Oh, das würde mich interessieren. Kauf, kauf! Das Geld dafür werden wir schon irgendwie auftreiben. Ich beschwöre dich, verschenke diese Gelegenheit nicht.«
»Nein, es wird alles zu deiner vollsten Zufriedenheit geschehen, ehrwürdiger Abt. Gott zum Gruß, junge Dame.«
Bessarion lief rot an. Er hatte Anna tatsächlich vergessen. Beflissen, um seine Unaufmerksamkeit wiedergutzumachen, stellte er die Tochter des Admirals dem Bibliothekar vor, mit der Bitte, sie in die Bibliothek einzuführen, weil sie Herrn Nikolaus helfen würde.
»Wie könnte ich der Tochter des Mannes, der unsere bescheidene Bibliothek so sehr fördert, etwas verweigern«, säuselte der Zwerg, aber Annas feines Gehör erkannte das überzuckerte Befremden über ihre Anwesenheit in der Stimme des Kleinwüchsigen. Wahrscheinlich gehörte er zu den Mönchen, die Besuche von Frauen und Mädchen im Männerkloster für gefährlich und in der Bibliothek schlicht für nutzlos hielten, weil nach ihrer Ansicht Gott den Frauen keinen Verstand gegeben hatte. Bessarion bekam davon nichts mit, weil er in der Wonne des Ankaufs schwelgte. Er verabschiedete sich, nicht ohne Anna daran zu erinnern, dass sie am nächsten Tag wieder dem normalen Gang der Studien folgen würden.
»Ihr könnt Latein sprechen und lesen?«, erkundigte sich der Zwerg höflich, nachdem der Abt der Bibliothek geradezu entflattert war.
»Ja, außerdem noch Italienisch und die fünf Arten des Griechischen.« Ein skeptischer Seitenblick des Bibliothekars verriet ihr, dass der Mönch ihre Äußerung für
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