Byzanz
zwei Schlangen.« Und dann sagte der Mönch einen Satz, den Anna lange nicht verstehen sollte: »Hüte dich, denn für dich geht größere Gefahr vom Himmel aus als von der Hölle.«
»Ihr meint, auch der Himmel ist gefährlich?«, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen.
»Ich habe nichts gesagt«, schloss der Zwerg die Betrachtung, die er um keinen Preis der Welt fortgesetzt hätte. Ihre Neugier, die Bibliothek zu entdecken, wuchs. Wenn der Bibliothekar in Rätseln sprach, konnte das nur bedeuten, dass dieser Raum ein Geheimnis barg. Sie versuchte sich die Worte des Mönchs wörtlich einzuprägen, denn es schien ihr, dass in ihnen ein Schlüssel steckte. Da sie die Tür nicht kannte und auch nicht das Schloss, besaß sie selbstverständlich keine Vorstellung vom Schlüssel.
Nikolaus von Kues erwartete sie bereits im Lesesaal. Er hatte sich die Zeit damit vertrieben, die Kopisten bei ihrer Arbeit zu stören, weil er nur zu gern zu erfahren wünschte, welches Buch sie gerade abschrieben. Die beiden Männer begrüßten sich freundlich. Dann ließ der Bibliothekar Anna und den Legaten in den Aufbewahrungssaal der Bücherschätze eintauchen. Nikolaus erzählte, dass er schon öfter, zumeist mit Bessarion, manchmal auch mit dem Bibliothekar in den Regalen gestöbert hatte, aber immer noch nicht so richtig die Ordnung verstanden hatte.
»Es ist ganz einfach«, plauderte Anna los, froh, ihm in diesem Punkt überlegen zu sein.
»Nichts ist einfach. In der Philosophie wie im Leben gibt es einen Grundsatz: Nimm keine Erklärung hin, die man dir anbietet. Welches Interesse sollte der Bibliothekar daran haben, dass wir seine Schätze entdecken?« Anna errötete. Doch Nikolaus lächelte knabenhaft. »Wo beginnen wir?«
»Dort«, sagte Anna und zeigte nach rechts.
25
Notaras-Palast, Konstantinopel
Die vielen Bücher, die sie sich angeschaut hatten, schwirrten in ihrem Kopf herum. In der Suche waren sie nur langsam vorangekommen, weil Nikolaus darauf bestanden hatte, jedes Buch durchzublättern. Der Lateiner, der sich als ein erfahrener Bücherjäger erwies, hatte ihr vorausgesagt, dass in so manchem Folianten, Quart- oder Oktavband ein zweites oder gar ein drittes Manuskript mit eingebunden war. Zwischendurch hatte er sie gebeten, ihm ein paar Stellen zu übersetzen, oder er erzählte ihr etwas über das Buch. Sie lernte, und wie sie lernte. Ihr Geist vermochte die Bibliothek nicht zu verlassen, sodass sie gar nicht wahrnahm, wie sie nach Hause gekommen war. Die Amme, Nikolaos auf dem Arm, schickte sie gleich ins Esszimmer der Familie. Dort richteten sich sieben Augenpaare teils überrascht, teils nachsichtig, teils freundlich, teils hämisch, teils erzürnt auf sie.
»Wo kommst du jetzt erst her?«, fragte ihr Vater mit unterdrücktem Zorn. So gut kannte sie ihn, dass sie ihm die Sorgen, die er sich gemacht hatte, ansah. Sie wusste ja, wie sehr er sie liebte, sie erkannte es daran, dass sie sich mehr erlauben durfte als ihre Geschwister.
»Aus dem Kloster. Wir haben uns die Bibliothek angeschaut und beim Stöbern die Zeit vergessen. Es tut mir leid.« Stille. Obwohl das Gesicht ihres Vaters keine Regung verriet, wusste sie, dass die Gefühle und Gedanken hinter seiner Stirn Purzelbäume schlugen. Loukas Notaras hatte klare Urteile und feste Ansichten über die Welt, nur bei seiner ältesten Tochter versagten sie regelmäßig. »Vielleicht sind Bibliotheken und Bücher nicht der richtige Umgang für eine junge Dame«, sagte er etwas ratlos.
»Es wird nicht wieder vorkommen, ich verspreche es. Wirklich, Papa! Aber wir sitzen auf einem Reichtum, den wir bergen müssen, anstatt ihn verrotten zu lassen oder, schlimmer noch, den Lateinern zu überlassen. Verstehst du, alles das, was uns ausmacht!«
»Brotlose Künste«, warf Thekla ein, die überhaupt nicht verstand, weshalb ihre älteste Enkelin wie ein Junge aufwuchs, wo ihr Sohn doch Söhne hatte. Sie vermisste die mädchengerechte Erziehung ihrer Enkelin, konnte aber niemanden in der Familie davon überzeugen, nicht einmal die alte Kaiserin Helena.
»Dort, wo Weisheit brotlos ist, wird es auch bald kein Brot mehr geben«, erwiderte Anna kalt.
»Entschuldige dich bei deiner Großmutter, aber sofort!«, rüffelte Eirene ihre Tochter. Sie ärgerte sich über Annas Widerspruchsgeist, weil es ihr Erbteil war. Sie fürchtete, dass Anna ihre Unabhängigkeit geerbt hatte. Am Ende könnte ihre Tochter konsequenter sein, als sie selbst es je gewesen war, weil sie zudem die
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